Hauptsache reden

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In solchen Momenten ist es, als würde mir eine unsichtbare Hand den Inhalt aus dem Magen quetschen. Ich weiß, es ist wieder so weit. Ich werde kein einziges Wort rausbekommen. Während ich hier stehe und mich jeder anstarrt, warten sie nur darauf, dass ich versage. Dass sie über mich lachen können. Aber ich kann es. Ich habe geübt. Tagelang, verdammt. Dieses Mal werde ich den Mund aufmachen. Natürlich bekomm ich's nicht hin ohne zu stottern, aber darum gehts auch gar nicht.

Hauptsache, ich rede.

Ich werde mich nicht draus bringen lassen.

Ich werde es versuchen und mein Bestes geben.

Ich kaue die Scheiße wie ein gottverdammtes Mantra durch.

Ich werde es versuchen und mein Bestes geben.

»H-H-H-H ...«, setze ich an und wie so oft kann ich nicht einfach sagen, was ich sagen möchte. Das h ist es heute. Die ersten Leute beginnen zu lachen. Ich hasse sie. Mehr als alles andere auf diesem Planeten. Für wen halten sie sich?

Verdammt, ich hoffe, ihre Kinder haben auch mal einen Sprachfehler. Dass sie merken, wie schlimm so was ist.

Wenn du dein ganzes Leben lang dagegen ankämpfst, gegen dich selbst kämfpst, sich aber einfach nichts ändert.

Wenn du einfach nur so akzeptiert werden willst, wie du bist, sie dir aber Tag vor Tag vor Augen führen, wie scheiße intolerant diese Gesellschaft ist.

Ich gebe auf, dass Wort heute noch auszusprechen. Es geht einfach nicht. »I-Ich« Ich atme tief durch. Geht doch. »m-m-möchte h-h-h-h« Scheiß h. Wieder spüre ich die Anspannung in meinem Körper.

Es ist so unglaublich anstrengend zu stottern. »H-Heute m-meine Präsentation h-h-h ... m-m-machen.« Mein Blick fällt über meine Mitschüler.

Manche von ihnen lächeln mich mitleidig an. Andere grinsen gehässig. Andere schauen weg und werfen mir nur flüchtige Blicke zu. Wie bei einem Unfall. Man will nicht hinsehen und trotzdem tut man's.

All die Reaktionen sind gleich beschissen.

Am liebsten würde ich irgendetwas zusammenschlagen. Kaputtmachen. Zerstören. Sie alle. Oder einfach in mein Bett liegen und heulen, ganz gleich, wie lächerlich das klingt. Meine Lehrerin lächelt mich an. Ich weiß, sie meint es nicht böse, aber trotzdem helfen ihre Worte nicht, dass ich mich besser fühle.

»Mach weiter, Vincent. Steiger dich nicht rein, sonst ist dein Stottern doch auch nicht so schlimm.« Wahrscheinlich will sie mir Mut machen, doch es macht gar nichts besser.

Das einzige, was mir helfen würde, wäre, wenn man mich nicht immer zwingen würde zu reden. Ich kanns doch einfach lassen. Dann wäre ich glücklich. Und sie auch, schließlich können sich ihr geheucheltes Mitleid sparen. Müssten dann nicht einen auf betroffen und verständnisvoll tun. Ich sehe sie einen Moment lang an und wie so viele Menschen gibt sie unter meinem Blick nach.

»Ü-Ü-Über die R-R-Rolle d-der Haupts-s-stadt im Kalten K-Krieg« Ich atme tief durch und werfe erneut meiner Lehrerin einen Blick zu. Wieso lässt sie nur zu, dass ich mich hier so quälen muss? Die ganze Sache hilft doch keinem. Nen Querschnittsgelähmten zwingt man doch auch nicht dazu, einen gottverdammten Marathon zu laufen.

Wahrscheinlich verstehen sie kein Wort, weil ich viel zu leise spreche. Die ganze Scheiße dient doch nur dazu, mich zu erniedrigen. Die einzigen die davon etwas haben, sind die Arschlöcher in der letzten Reihe, die sich vor Lachen nicht mehr einkriegen.

Einer von ihnen gähnt lautstark. »Wird das heute noch was? Ich will nicht bis morgen hiersitzen und mir das Gestammel von V-V-Vincent anhören.«

Von Helden und VerlierernWhere stories live. Discover now