Lucie
Ich stehe ruckartig vom Bett auf und flüchte ins Badezimmer, als müsste ich vor jemanden fliehen. Vor jemanden, der mein Vater ist. Doch er ist es nicht, vor dem ich wirklich fliehe. Er hat sich nur wieder in meine Gedanken geschlichen und alles zerstört. Einfach alles! Der, vor dem ich in Wirklichkeit flüchte, ist Caleb. Caleb, mein Freund. Ich flüchte vor meinen eigenen Freund. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl hatte sich in mir ausgebreitet. Aber anscheinend wird mir einfach gar nichts gegönnt. Nicht einmal ein bisschen Zweisamkeit mit meinem Freund. Denn als ich ihm erlaubt habe, mich dort unten zu berühren, kamen die Erinnerungen an gestern Nacht hoch. Die verdammten Erinnerungen! Die, in der mich mein eigener Vater vergewaltigt hat.
Dort schlage ich sofort die Tür zu und schließe mich ein. Ich lehne mich mit dem Rücken dagegen, kann mich aber keine einzige Sekunde lang auf den Beinen halten und rutsche hinunter auf den Fußboden. Warum? Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Ich habe die Gedanken an gestern Nacht verschwinden lassen, aber sie haben es trotzdem geschafft, zurückzukommen und dass ausgerechnet bei ihm. „Lucie?“, höre ich seine sanfte, ruhige Stimme hinter der Badezimmertür, gefolgt von einem Klopfen. Als ich nichts sage, versucht er die Tür zu öffnen, muss aber gleich darauf feststellen, dass sie abgeschlossen wurde. „Was ist los?“, hakt er weiter nach. Doch ich antworte nicht. Stattdessen ziehe ich meine Beine ganz nah an meinen Oberkörper heran, schlinge die Arme wieder darum und schüttle nur den Kopf, auch wenn mir bewusst ist, dass er das da draußen nicht sehen kann.
„Lucie?“, fragt er ein paar Minuten später, erneut nach. In der Zeit hat mein Körper angefangen, wieder zu zittern. Dabei wippe ich vor und zurück, und murmle immer wieder sowas wie: „Nein, nein.“ Ich glaube nicht, dass Caleb das hört. Beziehungsweise hoffe ich es inständig. Denn sollte er es doch hören, wird er auch danach fragen und dann gibt es noch eine Frage, die ich ihm beantworten muss. Und ich kann gerade auf keine einzige von ihnen antworten, was mein schon bereits zerrissenes Herz, noch weiter in die Mangel nimmt. „Warum bist du ins Bad verschwunden?“, möchte er wissen und ich höre, wie er seine Stirn gegen die Tür lehnt und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, was gerade in ihm vorgeht. Aber mir kann er nichts vormachen. Ich merke, was in ihm vorgeht. Ich spüre, was in ihm vorgeht. Er ist ein herzensguter Mensch und auch genauso verletzlich, wie ich es bin. Caleb wird sich daher vorwürfe machen. Und das noch mehr, wenn ich nicht mit ihm rede. „Habe ich irgendwas falsch gemacht?“
„Verdammt!“, fluche ich innerlich und lehne meinen Hinterkopf gegen die Tür, um ihm näher zu sein. Was soll ich ihm denn sagen? Wie soll ich ihm nur Rede und Antwort stehen? Ich kann schlecht sagen, dass mein Vater mich letzte Nacht vergewaltigt hat, mich diese Gedanken so sehr zerfressen, dass sich ein Gefühl in mir ausbreitete, welches dafür sorgte, dass ich Lust auf mehr hatte und ihn dann natürlich auch mehr machen ließ, bis sie sich wieder in die Vordergrund drängelten und das veranstalteten, was jetzt gerade passiert. Das kann ich ihm nicht sagen. Das geht einfach nicht. Das kann und will ich meinen Freund einfach nicht antun. Dafür ist er viel zu gut.
„Es tut mir leid, Caleb“, antworte ich und weine schon wieder. Ich lasse die Tränen über meine Wangen laufen, die sich direkt in meine Haut brennten und noch dazu hasse ich mich jetzt schon, für das was ich getan habe. Das ich es nicht einmal versuche, mit ihm zu reden. Er ist mein Freund und wir führen seit ungefähr einem Monat eine Beziehung, wo man doch eigentlich über seine Probleme reden kann oder nicht? Das ist doch das, worauf sie sich aufbaut. Auf Vertrauen. Caleb vertraut mir und ich vertraue ihm. Dennoch kann ich ihm nicht sagen, was passiert ist, was mit mir los ist oder was in meinem Kopf alles vor sich geht. Ich will, ich will es sogar sehr. Aber es fühlt sich so an, als befände sich jemand in mir, der mich daran hindert, die richtigen Worte über meine Lippen bringen. Das macht mich wahnsinnig. Es macht mich wahnsinnig und schwach. Es macht mich schwach und verletzlich. Und ich will nichts von all dem sein. Weder wahnsinnig, noch schwach oder verletzlich. Allerdings weiß ich, dass ich nichts daran ändern kann. Zumindest nicht jetzt. Nicht heute und wahrscheinlich auch morgen oder übermorgen nicht.
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Kurzgeschichten zu "Nur die Vergangenheit kennt die Wahrheit"
Teen FictionEs ist Herbst. Du sitzt auf dem Fensterbrett, in deinem Zimmer. Das Fenster ist angeklappt und du hörst, wie der starke Regen gegen die Scheibe prasselt. Es tobt ein unheimliches Gewitter und du denkst, die Welt geht gerade unter. In den Händen hält...