Ashley
Die Vibration meiner Armbanduhr zieht meine Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde auf sich und zeigt mir wieder einmal, dass wir nur noch ein paar Minuten miteinander haben. Das sie nur noch ein paar Minuten mit mir hat. Schon wieder ist die Zeit so unfassbar schnell vergangen. Es fühlt sich so an, als hätten wir unsere wöchentliche Sitzung erst vor kurzem begonnen. Aber jetzt ist sie gleich vorbei und auf meinen Lippen hat sich ein kleines Lächeln gebildet. Wir haben diesmal einen großen Fortschritt gemacht. Einen Fortschritt, der ihr ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert hat und diesmal ist es ein ehrliches Lächeln. Das erste ehrliche Lächeln, welches ich von ihr bekommen habe, seit wir vor über zwei Monaten mit ihrer Traum-Therapie begonnen haben. Ich bin so unfassbar stolz auf sie. Sie kann so unfassbar stolz auf sich sein.
„Was nimmst du aus der heutigen Sitzung mit, Aria?“, frag ich meine junge Patientin und lächle ihr stärkend zu, während ich Block und Stift fest in den Händen halte, um mitzuschreiben. Neben mir auf der weichen, cremefarbenen Couch sitzt Aria Kinsman. Sie ist vor ein paar Tagen neun geworden und dementsprechend schon mit zarten acht Jahren zu mir gekommen. Naja. Wenn man es ganz genau nimmt, ist ihre Pflegemutter auf mich zugekommen. Bridget, so lautet ihr Name, wurde durch das Jugendamt auf mich aufmerksam, was mich noch einmal sehr berührt, da ich durch diese enge Zusammenarbeit an einige neue Patienten komme. So haben wir uns bei einem Kaffee und einem Stück Küchen in der Innenstadt unterhalten und ein wenig kennengelernt, wobei sie mir nebenbei von Arias Vergangenheit erzählte. Eine Vergangenheit, die mir auf mehrere Arten und Weisen das Herz brach. Mittlerweile habe ich längst aufgehört mitzuzählen, wie oft mir die Schicksäle meiner Patienten und Patientinnen das Herz gebrochen haben.
„Ich nehme mit, dass es in Ordnung ist selbst zu entscheiden, von wem ich umarmt werden möchte und von wem nicht. Es ist gut, die Kontrolle darüber zu haben“, antwortet sie und lächelt dabei noch ein wenig mehr. Es ist diese eine Frage, die ich immer am Ende jeder einzelnen Sitzung stelle und zu 99,9 Prozent wird sie so beantwortet, wie ich es mir zuvor bereits gedacht habe. Bei Aria war es nicht anders. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass da noch irgendwas ist, was sie gern loswerden möchte. „Und wie hat es sich diesmal angefühlt, als du umarmt wurdest?“, hake ich nach und bin froh, für heute keinen weiteren Termin im Kalender zu haben, sodass ich das Gespräch mit ihr ein wenig länger führen kann, statt den üblichen sechzig Minuten.
„Es hat sich… gut angefühlt“, sagt sie, wenn auch noch etwas unsicher. „Ich glaube, es hat mir etwas Kraft gegeben.“ Das Lächeln auf meinen Lippen wird breiter und mein Herz schwillt vor wärme an. „Das freut mich sehr, Aria. Du kannst stolz auf dich sein“, antworte ich und notiere mir ihre Antwort, die später dann in ihre Akte gelegt wird. Es bedeutet mir viel, dass ich meiner Patientin heute ein wenig helfen konnte. Der Erfolg der heutigen Sitzung ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Denn als wir das erste Mal miteinander gesprochen haben, hätte ich nicht gedacht, dass wir so schnell an diesen Punkt angelangen würden. An den Punkt, dass sie sich wieder umarmen lassen würde, ohne eine Panikattacke zu bekommen. Etwas, was ich nicht einmal meinen schlimmsten Feind wünsche. Immerhin weiß ich nur zu gut, wie es ist, wenn man selbst eine Panikattacke erleidet. Dabei sind es doch genau diese Umarmungen, die sie eins so geliebt hat. Deswegen haben wir heute auch ein paar Übungen gemacht, die Aria Stück für Stück dazu bringen sollen, Umarmungen und generell solche Berührungen wieder als etwas Angenehmes und Schönes zu empfinden. Der eigentliche Grund warum wir das gemacht haben, ist die Panikattacke, die sie an ihrem Geburtstag bekam, als jemand sie umarmen wollte, der nicht die gravierenden Hintergründe diesbezüglich kennt. Bei ihren gleichaltrigen Freunden aus der Schule sind Umarmungen jedoch alles andere als schlimm.
DU LIEST GERADE
Kurzgeschichten zu "Nur die Vergangenheit kennt die Wahrheit"
Teen FictionEs ist Herbst. Du sitzt auf dem Fensterbrett, in deinem Zimmer. Das Fenster ist angeklappt und du hörst, wie der starke Regen gegen die Scheibe prasselt. Es tobt ein unheimliches Gewitter und du denkst, die Welt geht gerade unter. In den Händen hält...