53 | Die Briefe

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„Du bist wieder da." Charles hörte die Worte, die Collin sprach und wusste genau, dass es zum Teil Freude und zum Teil Überraschung war, die in seiner Stimme lagen.

„Ich bin wieder da." Das war Bob.

Mit einem Mal hat Charles hellwach. Er schwebte mittlerweile ziemlich selbstsicher zu der kleinen Öffnung, die sich seit dem ersten Erscheinen der hell leuchtenden Kugel in der Wand gezeigt hatte und die inzwischen immer größer geworden war. Sie war nun fast so groß wie ein Teller, und Charles konnte wie durch ein Guckloch nach draußen sehen. Tatsächlich, dort saß Bob mit seinen blonden Locken und den blauen Augen und hatte seinen fest entschlossen Blick auf Collin gerichtet.

Charles wagte kaum zu hoffen, dass die drei Fragezeichen den Auftrag, den Collin ihnen erteilen wollte, angenommen hatten. Denn Collin hatte versprochen, dass Bob in diesem Falle mit ihm, Charles, sprechen durfte. Er würde es Charles überlassen, ihnen zu erzählen, wo er die Karte versteckt hatte und dieses Versteck war gar nicht mal so großartig, fand Charles. Es war sogar recht simpel, wenn man überlegte, dass es für die Karte der Stadt Rocky Beach nur zwei potenzielle, und emotional wichtige, Verstecke für Collin gegeben hatte.

Anfangs hatte er darüber nachgedacht, die Urkunde im Haus der Familie Mason unterzubringen. In dem alten Zimmer von Sofia oder unter dem Gemälde des Caravaggio wären gute Orte gewesen. Nur leider war Mr Maison nach dem kleinen Unfall von Mr Harker nicht mehr sehr gut auf Collin zu sprechen gewesen. Zwar hatte niemand gesehen, dass es tatsächlich Collin gewesen war, der Mr Hacker nach einem Streit die Treppe im Haus hinuntergestoßen hatte, doch es war irgendwie auch zu offensichtlich gewesen, nachdem die beiden sich zuvor lautstark gestritten hatten. Collin hatte immer wieder darauf bestanden, dass es ein Unfall war. Und Mr Harker hatte eine so schwere Kopfverletzung davongetragen, dass er sich in dessen Folge nicht mehr an den Streit und seinen Sturz erinnern konnte.

Insofern stand nun der Verdacht gegen die Unschuldsvermutung, und Collin war freiwillig gegangen, da er sowieso studieren wollte, wie er sagte. Doch das Studium hatte er niemals angetreten. Sein Fokus hatte sich nach dem Finden der Briefe in eine ganz andere Richtung verlagert.

Die Briefe. Dreißig Stück an der Zahl. Sie waren alle von dem gleichen Mann geschrieben worden; einem Mann, den Ian nur wenige Male in seinem Leben gesehen hatte und der nur ganz entfernt das Prädikat ‚Vater' verdient hatte.

Dieser Mann - Illias Chandler Jaccuard - hatte seine Mutter während eines kurzen Besuches in Oxnard kennen gelernt. Damals, vor über 21 Jahren. Sie hatten sich in einer Bar getroffen, recht gut verstanden und waren danach in dem Hotelzimmer von Illias gelandet. Seine Mutter war damals noch jung gewesen und hatte geglaubt, dass der nette Mann, der so gebildet redete und so unglaublich kultiviert war, sie sicherlich nach dieser Nacht heiraten würde.

Doch sie hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn für diesen war Sarah Jackell nur eine Station von vielen. Sein Herz hatte er längst einer anderen geschenkt, die er aber nicht haben konnte. Doch als seine Mutter ihm nach neun Monaten das neugeborene Kind präsentierte, kratzte er das letzte bisschen Anstand zusammen, um ihr wenigstens einen anständigen Unterhalt für das Baby schicken zu können. Das war die Geschichte, die ihm seine Mutter in seiner Jugend erzählt hatte, als er begann, Fragen nach seinem Vater zu stellen.

In den Briefen, die Ian gefunden hatte, offenbarte sich noch eine ganz andere Wahrheit. Ian hatte aus irgendeinem Grund immer angenommen, dass der Mann, der ihn alle paar Jahre einmal zum Geburtstag besuchen kam und nie lange blieb, ein Reisender Händler oder so etwas ähnliches war. Ständig erzählte sein Vater ihm, dass er mal wieder da oder dort gewesen und Geschäfte gemacht hatte. Dass er nicht lange bleiben könne, weil er so viel arbeiten musste. Das ist ihm leid, tat, dass er ihn so selten sah, doch dass er keine andere Möglichkeit hatte.

Anfangs hatte Ian das auch noch geglaubt. Doch je älter er wurde, desto mehr hatte er infrage gestellt, was der Vater ihm da erzählte und als irgendwann sein Stiefvater erwähnte, dass kein Job der Welt so wichtig war, sein eigenes Kind dafür im Stich zu lassen, hatte sich die anfängliche Bewunderung für den Mann in Groll gewandelt. Mit der Zeit hatte Ian einen regelrechten Hass auf diesen Mann bekommen und wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Als er in der Phase seiner Trauer nun in den Briefen las, vervollständigte sich ein Bild, dass er so nicht geahnt hatte. Sein Vater war kein Reisender Händler, und es gab einen guten Grund, warum der Mann nie lange an einem Ort blieb. Sein Vater war ein - und so nannte er sich selbst - Meisterdieb! Er reiste umher, stahl Gemälde und verkaufte sie auf dem Schwarzmarkt an gut situierte Sammler. In den Briefen an seine Mutter macht er daraus keinen großen Hehl, denn er unterschrieb auch nicht mit seinem richtigen Namen, sondern mit seinem Künstlernamen: Viktor Hugenay.

Er berichtete ihr von seinen neuen Raubzügen und auch von seinen Niederschlägen. Leider konnte Ian immer nur die Seite von Victor lesen, denn die Antworten, die seine Mutter ihm geschrieben haben musste, blieben im Dunkeln und fragen konnte er sie nicht mehr.

Hugenay verstand es, sich in einem sehr guten Licht zu präsentieren. Er sah sich quasi als Robin Hood der Kunst. Die Gemälde, die er stahl, fanden in den Häusern, in denen er sie wegnahm, seiner Meinung nach nicht genügend Aufmerksamkeit, und die Menschen, die bereit waren, so hohe Summen zu bezahlen, nur um dieses Gemälde zu besitzen, konnten es demnach viel besser wertschätzen. Und Kunst war nicht dafür da, nur irgendwo herumzuhängen. Kunst war dazu da, damit man sie bewunderte, über sie sprach, und sich wünschte, sie selbst zu besitzen.

Und genau diese Anerkennung fand Hugenay in Ians Mutter, die sich all die Jahre, und trotz eines neuen Mannes, nie ganz von der Vorstellung hatte lösen können, dass Viktor, wie er sich nun nannte, ihr Traummann war. Sie bewunderte ihn, schrieb ihm jahrelang Briefe und aus den Antworten konnte Ian zumindest erahnen, dass sie ihn auch gerne wiedergehabt hätte. Immer öfter schrieb Viktor ihr, dass es keine Möglichkeit gab, zurückzukommen, weil die Polizei ihn suchte.

Und dann, eines Tages, schrieb er ihr, dass er ein Rocky Beach sei. Er schrieb ihr, dass er sie und den Jungen gerne sehen wolle; dass er sich vorstellen könnte, vielleicht wieder sesshaft zu werden, in diesem kleinen Küstenstädtchen, so nah an Oxnard.

Als Ian diesen Part gelesen hatte, begann sein Herz laut zu klopfen. Hatte dieser Mann tatsächlich versucht, ihm wieder nahe zu sein? Hatte er einen Neuanfang mit seiner Mutter und ihm geplant? In Rocky Beach, das nur ein paar Autobahn-Minuten von Ihnen entfernt lag?

Doch wieso hatte er es dann nicht wahrgemacht? Wieso hatte Ian nie davon erfahren, dass sein Vater so nah war? Die Antwort erfuhr er in einem weiteren Brief. Sein Vater hatte beschlossen sesshaft zu werden. Doch dann war es zu einem Zwischenfall gekommen. Eine Gruppe selbsternannter Junior Detektive hatte es sich zur Aufgabe gemacht, es seinem Vater schwer zu machen. Auch die Polizei hatte Jagd auf ihn gemacht, und so hatte sein Vater schließlich fliehen müssen, und hatte nicht in Rocky Beach bleiben können.

Das war der Moment gewesen, in dem Collin furchtbar wütend geworden war. Ebenso wie die Mutter, verehrte er den Vater, da er erfolgreich, wohlhabend und mächtig war. In seinen Augen war es nicht seine Schuld gewesen, dass er sich nicht hatte kümmern können. Immerhin wurde er aufgrund seiner durchaus noblen Tätigkeiten von der Polizei gesucht, und es war auch nicht seine Schuld, dass er seinen Wunsch nach Rocky Beach zu ziehen, nicht wahrmachen konnte.

Nein! Collin wusste, wessen Schuld es war: Es war die Schuld der Polizei! Und es war die Schuld der drei Detektive, die ihren Vater überführt und zu Fall gebracht hatten. Wahrscheinlich mit mehr Glück als Verstand.

Zu diesem Zeitpunkt schwor sich Collin, dass er sich an den drei Fragezeichen und der Stadt Rocky Beach rächen würde. Wenn sie von ihm bloßgestellt oder vernichtet werden würden, würde das seinem Vater sicher gefallen. Und an diesem Plan hatte sich bis jetzt auch nichts geändert. Nicht einmal, als er Bob erzählte, dass er ihm nun verraten würde, wo er die Karte versteckt hatte.

Drei ??? (3) - EscapeWhere stories live. Discover now