49 | Collin übernimmt die Überhand

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Es waren bereits mehrere Monate vergangen, in denen Ian sich immer wieder mit Sophia getroffen hatte. Hatte er anfangs auch kein gesteigertes Interesse an der jungen Frau gehabt, genoss er doch bald die langen Gespräche über Kunst und Architektur, die sie beide so liebten. Ian stellte fest, dass sie, neben ihrer Begeisterung für die schönen Dinge im Leben, auch die Abwesenheit eines Elternteils teilten. So wie Ians Vater ihn und seine Mutter früh verlassen hatte, so war Sophias Mutter vor einigen Jahren zurück nach Italien gegangen, um sich um ihren kranken Vater zu kümmern. Sophia studierte in Kalifornien Kunstwissenschaften und war deshalb in den USA geblieben.

Eines Abends sprachen sie bei einem romantischen Strandspaziergang über Ians Zukunft. Er erzählte ihr, dass er auch gerne studieren würde, vielleicht Kunst oder Kunstgeschichte. Doch seine Schulzeit war nicht gerade von guten Noten geprägt gewesen. Er würde Geld brauchen, um sich in der Uni einschreiben zu können. Sophia bestärkte ihn in seinem Wunsch und griff in einem intimen Moment nach seiner Hand. Ian hätte nicht gedacht, dass er einmal romantische Gefühle für ein Mädchen empfinden könnte, doch Sophia kam seiner Vorstellung von einer perfekten Frau zumindest nahe. Und während er noch überlegte, was aus diesem Moment werden sollte, hatte Collin sich bereits entschlossen.

Er war von Anfang an vernarrt gewesen in das Mädchen, dass ihn nicht nur äußerlich angesprochen hatte, sondern dessen Verbindung zu dem mächtigen Mr Mason ihn ebenso reizte wie erregte. Als sie nun also nach Ians Hand griff, übernahm Collin für einen Moment die Kontrolle über Ians Verstand und Körper, beugte sich zu ihr herunter und küsste sie. Zuerst erwiderte sie den Kuss. Als Collin jedoch begann, sie dicht an sich zu ziehen und seine Hände an ihrem Rücken tiefer zu wandern begannen, drückte sie ihn von sich weg.

Sie erklärte, dass sie ihn gern habe, doch dass er ihr nur als Freund wichtig wäre und er ihr zu jung sei. Collin nahm es nicht gut auf. Er zog sie noch einmal an sich heran und wollte sie abermals küssen. Doch sie stieß ihn von sich und als Collin einen weiteren Schritt auf sie zu machte, fing er sich eine Ohrfeige ein.

Collin war gekränkt und wütend. Und in seinem Stolz verletzt.

Seine Enttäuschung ließ ihn herumfahren und eilig den Strand hinunter und weg von Sofia laufen. Als er genügend Abstand zwischen das Mädchen und sich gebracht hatte, verklang langsam seine Wut, und seine Schritte verlangsamten sich.

Plötzlich war Ian, der für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt hatte, eine außerkörperliche Erfahrung gemacht zu haben, wieder ganz bei Sinnen. Er erinnerte sich daran, wie etwas Heißes in seinem Körper plötzlich von ihm Besitz ergriffen und seinen Geist übermannt hatte. Er hatte sehr wohl mitbekommen, dass er Sophia geküsst hatte und auch, dass sie sich von ihm bedrängt gefühlt hatte. Nur schien es ihm gar nicht so, als ob er derjenige gewesen wäre, der diese Handlung begangen hätte. Natürlich war es sein Körper gewesen. Und er spürte den Abdruck von Sophias Hand deutlich auf seiner Wange. Und doch. Er hätte sie niemals gegen ihren Willen geküsst, aber er wusste, wer es getan hätte.

Wütend stellte er Collin zur Rede. Doch dieser meinte nur, dass Sofia wahrscheinlich noch etwas Zeit bräuchte, um zu verstehen, dass er der Richtige für sie war. Er war in dieser Sache so uneinsichtig, dass Ian schließlich einen Entschluss fasste: Er wollte Collin nicht mehr in seinem Kopf haben! Er sollte ihm nicht mehr diktieren, was er zu tun und zu lassen hatte. Doch wie stellte man das an? Wie brachte man eine Stimme in seinem Kopf zum Schweigen?

Es dauert ein paar Tage, bis Sofia nach endlos vielen Versuchen endlich den Hörer ihres Handys ab, und den Anruf von Ian entgegen nahm. Sie war wütend gewesen und Ian hatte das verstanden. Er hatte sich entschuldigt, und ihr erklärt, dass nicht er es war, der sie in diesem Moment geküsst hatte. Anfangs hielt sie es für eine dumme Ausrede. Doch als sie sich schließlich dazu überwinden konnte, sich noch einmal mit ihm in einem Café zu treffen und er ihr erzählte, dass er diese Stimme, die er Collin nannte, schon seit einigen Jahren in seinem Kopf hörte, fing sie an, ihm zu glauben und schlug ihm vor, zu versuchen diese Stimme zu unterdrücken.

Ian brachte es nicht übers Herz Sophia von Charles zu erzählen, und er wollte nicht, dass Charles auch ging, wenn er Collin ruhigstellte. Er mochte Charles, denn er war die einzige Person in seinem Leben, auf die er sich immer verlassen konnte. Er war nett, meistens gut gelaunt und sah das Positive in den Menschen. Ian wollte nicht, dass Charles ging. Er wollte nur, das Collin ging.

Sophia schlug schließlich vor, es bei einem Therapeuten zu versuchen. Er mochte ihr nicht sagen, dass er sich so einen Seelenklempner nicht leisten wollte. Seine Mutter ging seit Jahren zu einem viel zu teuren Therapeuten, der es nie geschafft hatte, ihre Depressionen zu heilen. Ian glaubte nicht daran, dass es möglich war, sein Leiden mit Reden zu heilen. Doch er war zu stolz, um Sophia um weitere Hilfe zu bitten und stimmte schließlich zu. Er würde sich zumindest mal informieren.

Nachdem die beiden sich wieder vertragen hatten, recherchiert Ian deshalb im Internet. Er fand den ein oder anderen brauchbaren Artikel zu dem Thema „Stimmen" und wühlte sich nächtelang durch Erfahrungsberichte von anderen Betroffenen. Irgendwann hatte er das Gefühl, dass er genug darüber gelesen hatte und nun eine Entscheidung treffen konnte. Durch seine Kontakte zu den Patienten von Mr Mason kam er an ein Medikament, das er fortan zu nehmen gedachte. Dieses unterdrückte seine besonders starken Gefühle wie Wut, aber auch Liebe.

Während er darüber froh war, in den nächsten Monaten immer weniger von Collin belästigt zu werden, spürte er aber auch, dass Charles immer schwächer wurde. Doch das war es Ian schließlich wert gewesen und als Sofia zwei Jahre später nach Italien zu ihrer Mutter zog, hatte er kaum Abschiedsschmerz verspürt. Es war, wie es war. Sie war fort. Und Ian hatte inzwischen eine beträchtliche Summe angespart und einen guten Posten in Mr Masons kleiner Apotheke erhalten. Er war auf einem guten Weg nach oben. Nichts konnte ihn aufhalten, bis zu diesem einen Tag Ende Januar, der sein ganzes Leben verändern würde.

 Nichts konnte ihn aufhalten, bis zu diesem einen Tag Ende Januar, der sein ganzes Leben verändern würde

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Drei ??? (3) - EscapeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt