51 | Der Unfall

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Es war an einem Januarmorgen, besser gesagt dem 19. Januar um 10:13 Uhr. Collin hatte gerade die letzten Bewerbungsunterlagen für das anstehende Sommersemester ausgefüllt, da er sich nach Sophias Weggang endlich darauf konzentrieren wollte an die Kunstschule zu kommen. Das Geld hatte er sich die letzten Jahre mühsam zusammengespart. Er wohnte immer noch bei seiner Mutter und ihrem neuen Mann, wobei er in dem alten Haus die erste Etage nur für sich hatte. Dort saß er gerade unter der Dachschräge an seinem Schreibtisch und druckte die letzte Bescheinigung für die Uni aus, als er von unten ein Klirren, wie Porzellan auf Fliesen, hörte.

Dann vernahm er ein dumpfes Geräusch und schreckte hoch. Zum ersten Mal seit vielen Monaten bekam Ian Angst. Angst, dass etwas passiert sein könnte. Angst um den einzigen bedeutenden Verwandten, den er noch hatte: Seine Mutter!
Mit einem Ruck war er aufgesprungen, hatte dabei den Stuhl umgestoßen, war auf dem Weg ins Untergeschoss zweimal gestolpert und konnte sich gerade so an der Treppe festhalten, um nicht zu fallen. Sein Herz klopfte laut, als er in der Küche ankam und seine Mutter auf dem Fliesenboden liegen sah. Die zerbrochene Kaffeetasse lag neben ihr und die braune Flüssigkeit war in ihre Haare gelaufen und hatte sich dort mit dem Blut aus der Platzwunde vermischt.

Ian lief schnell zu ihr und sank neben ihr auf die Knie. Er rief ihren Namen und berührte ihr Gesicht, doch nichts tat sich. Während er nicht wusste, was er tun sollte, kam sein Ziehvater in den Raum und Ian hörte nur ein lautes „Fuck", bevor sein Ziehvater sein Handy zückte und den Notruf wählte.

Den halben Nachmittag saß Ian auf einem harten Stuhl im Warteraum des Krankenhauses und hoffte auf gute Nachrichten. Doch was der Arzt ihm sagte, riss ihm den Boden unter den Füßen weg: Im Gehirn seiner Mutter war eine kleine Ader geplatzt. Diese hatte zu einem Schlaganfall und dem Sturz geführt. Leider war seine Mutter bei dem Sturz so unglücklich mit dem Kopf auf den Fliesen aufgeschlagen, dass sie ein schweres Schädelhirntrauma erlitten hatte.

Als der Arzt ihm die Neuigkeiten auf dem Gang erzählte, und irgendetwas mit „Grad drei" und „Felsenbein" erzählte, lag seine Mutter bereits im künstlichen Koma. Man hatte sie in den Computertomographen, kurz CCT, geschoben und so die Verletzung des Gehirns durch den Knochen festgestellt. Während der notwendigen Operation saß Ian im Wartezimmer des sterilen Krankenhauses und betete zum ersten Mal in seinem Leben zu einem Gott, an den er nicht glaubte. Sein Ziehvater wanderte derweil nervös den Gang auf und ab, und obwohl sie kein Wort miteinander sprachen, wusste Ian, dass auch er sich große Sorgen machte.

Als nach drei Stunden der Arzt, den sie schon kannten, auf die beiden zukam, wagte der Sohn nur kurz, noch Hoffnung zu haben. Der Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Doktors verkündete die Botschaft, bevor sie seinen Mund verließ. In dem Moment, als er vom plötzlichen Tod seiner Mutter erfuhr, starb ein kleiner Teil in Ian und ein anderer begann zu erwachen. Einer, der so traurig und wütend war, dass er erneut Stärke erlangte und trotz der Medikamente wieder zum Vorschein kam. Und obwohl die Ärzte ihr Bestes gegeben hatten und niemand an dem Unfall Schuld trug, begann Collin eine Wut auf den jungen Doktor zu entwickeln, und verlor im gleichen Zuge sein Vertrauen in Autoritätsperson. Seine Trauer wandelte sich in Hass, und als er das Krankenhaus kurze Zeit später verließ, war die Verzweiflung in ihm so groß, dass er mit seiner Faust so hart gegen die Scheibe eines Autos schlug, dass er sich dabei den kleinen Finger brach. Und ehe Ian verstand, was gerade passiert war, schob sich Collin in seine Gedanken:

„Ich bin wieder da!"

Das Haus wurde verkauft

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Das Haus wurde verkauft. Vielleicht war es besser so, dachte Ian, als er die letzten Kartons aus seinem Zimmer ins Wohnzimmer trug. Er hatte sich ein kleines Haus in Oxnard gemietet, das in einem dichten Wohngebiet etwas außerhalb des Stadtkerns lag. Da er vorhatte, im Sommersemester in LA zu studieren, wäre dies sowieso nur eine Übergangslösung. Der Erlös des Hauses würde zwischen ihm und seinem Ziehvater zu gleichen Teilen aufgeteilt werden, auch wenn die beiden nie ein Vater-Sohn-Verhältnis gehabt hatten, so waren sie doch im Guten auseinander gegangen. Die gemeinsame Trauer um Sara Jackell hatte sie kurz zu Verbündeten gemacht.

Kurz bevor der bestellte Umzugswagen am Haus eintreffen würde, ging Ian noch einmal nach oben und beschloss, noch schnell auf dem Spitzboden zu schauen, ob dort noch etwas lagerte. Seit er denken konnte, hatte sich dort oben nichts befunden. Dennoch war er neugierig, ob vielleicht ein paar alte Spielzeuge in Pappkartons vor sich hinvegetierten. Er öffnete die Luke zum Spitzboden und klappte die morsche Holzleiter aus, die ihm den Weg in die Spitze des Hauses erlaubte.

Oben angekommen war wie erwartet alles voller Spinnweben und Staub. Eine kleine Dachluke erhellte den linken Teil des Geschosses, und auf der rechten Seite befanden sich ein paar alte Dachziegel und andere Baumaterialien, die bei in der Errichtung des Hauses wohl übriggeblieben waren.

Gerade wollte er wieder hinabsteigen, als ihm ein kleiner Schuhkarton ins Auge fiel, der etwas versteckt in einer Nische stand. Er hätte es sicherlich nicht für interessant gehalten, wären auf dem Karton nicht ein paar Sticker aufgeklebt gewesen. Aus der Ferne konnte Ian nicht erkennen, was das für Sticker waren, doch als er auf allen vieren bis zur Pappschachtel vorgedrungen war, erkannte er deutlich Herzen und Blümchenmuster.

Neugierig zog er die Schachtel zu sich her heran und nahm sie zwischen seine Beine. Andächtig öffnete er den Deckel. Was er darin fand, ließ ihn staunen. Es war ein Stapel alter Briefe, sorgsam zusammengebunden mit verschiedenen farbigen Geschenkbändern.

Die Adresse, an die die Briefe geschickt worden waren, war stets dieselbe. Sie waren alle adressiert an seine Mutter, in diesem Haus. Absender-Adressen gab es nicht, doch die Briefmarken verrieten, dass sie von überall auf der Welt abgeschickt sein mussten. Besonders häufig entdeckte er bekannte Elemente wie den Eiffelturm, den Arc de Triumph, das Louvre und das Ufer der Seine, was ihn darauf schließen ließ, dass diese Briefe aus Frankreich, genauer gesagt, Paris stammten.

Ian beschloss, den Pappkarton mit seinem Inhalt mitzunehmen und später in seiner neuen Bleibe einmal durchzusehen. Er wollte nicht in der Vergangenheit seiner Mutter herumschnüffeln. Und doch war er neugierig, wer seiner Mutter diese Briefe geschrieben hatte. Und vor allen Dingen war er neugierig, warum diese Briefe hier oben auf dem Dachboden gelandet waren. Seine Mutter hätte sie ebenso gut verbrennen können, wenn sie nicht wollte, dass jemand darin las. Doch sie hatte sie behalten, wohl aus sentimentalen Gründen und auf diese war Ian nun sehr gespannt. Was er wohl finden würde?

Drei ??? (3) - EscapeDonde viven las historias. Descúbrelo ahora