Warum man keine fremden Handys benutzen sollte

145 13 27
                                    


Ich lag da wie auf heißen Kohlen. Noch nicht einmal der Gedanke daran, dass Alexander keinen einzigen Zentimeter von mir entfernt vor sich hin atmete, weil eingeschlafen, konnte meinen Fokus auf sich ziehen. Nicht im Anbetracht der Tatsache, dass schon sechzehn der zwanzig Minuten um waren. Sechzehn! Das waren fast siebzehn und von dort aus war man fast bei achtzehn und achtzehn war nur noch zwei Minuten von der zwanzig entfernt und das bedeutete, dass eigentlich schon längst mindestens einundzwanzig Minuten um waren!

Oh fuck, oh fuck, oh fuck, oh fuck, oh fuck!

Mit äußerster Vorsicht – sprich, mit klatschnassen Pfoten und unkoordinierten Bewegungsabläufen – pflückte ich Alexanders Hand von meiner Brust, aber noch bevor ich meinen Plan überhaupt vollständig in die Tat umsetzen konnte, rührte er sich.

„... in drei Stunden."

Ich hielt die Luft an, aber da kam nichts mehr. Nur dieser bescheuerte Halbsatz und ein kurzes Zucken des Armes, den ich immer noch am Handgelenk festhielt.

Dann erneut Stille.

Ich zählte im Kopf leise bis zehn und, als sein Atem in meinem Nacken weiterhin gleichmäßig blieb, Gänsehaut inklusive, traute ich mich, ein hastiges Rutschmanöver zur Bettkante hin durchzuführen. Und zwar erfolgreich!

Alexanders Arm plumpste auf die Matratze und ich auf den Boden, von wo aus ich super unauffällig bis zur Tür krabbelte, aber gerade an der Tür angekommen wendete sich das Blatt ein weiteres Mal.

„Ich möchte dich wirklich gerne fragen, weshalb du mitten in der Nacht auf allen Vieren auf dem Boden herumkriechst, aber andererseits", unsere Blicke trafen sich über meine rechte Schulter hinweg. Er lag auf der Seite, sein Haar ein wildes Durcheinander, die Augen nur halb geöffnet und mit faul nach oben gekräuselten Mundwinkeln, „ist es mir irgendwie auch egal, weil mir der Anblick gefällt."

Meine Kiefer bewegte sich. Ich erwartete Worte, eine schlaue Rechtfertigung vielleicht, aber das passierte natürlich nicht, weil mein Gehirn nicht wusste, was Intelligenz überhaupt bedeutete: „Ich muss pinkeln."

Für zwei volle Sekunden schien er aus dem Konzept gebracht, dann richtete er sich minimal auf. „Dann tust du das wegen den Problemen mit deinem", er deutete sich selbst in den Schritt, „Harnableitungssystem?"

Probleme mit meinem Harnableitungssystem? Ich hatte keine Probleme mit meinem Harnableitungssystem, ich war gedemütigt worden, das war das Problem!

„Ich hab nur Probleme, weil ich dazu gezwungen wurde, mich in einem vollen Bus bis zu den Socken einzunässen! Und dann musste ich mich dort auch noch komplett aus- und umziehen!"

Daraufhin starrten wir uns erstmal an, bis die Hitze in meinen Wangen so unerträglich wurde, dass ich den Blickkontakt abbrechen musste.

„Damals ... da war ich sechs. Sechs, okay? Jetzt hab ich meine Blase voll unter Kontrolle. Also, wenn keiner in der Nähe ist – was nicht heißt, dass ich mir in die Hosen mache, wenn jemand in der Nähe ist! Was ich meine, ist, dass ich überhaupt nicht pinkeln kann, wenn jemand in der Nähe ist, der irgendwie hören kann, wie ich pinkle!"

Meiner Erklärung folgte ein seltsam leerer Gesichtsausdruck – wieso war mir vorher nie aufgefallen, wie dämlich Alexander schaute, wenn er nachdachte? –, bevor er neben sich tastete, wo ich in meiner Nacht-und-Nebel-Aktion sein Handy fallengelassen hatte.

Sein Handy mit dem noch offenen Chatfenster.

„Nicht-!"

Zu spät. Schon hielt er seinen Ringfinger zur Entsperrung an den Homebutton und ... schaltete Musik ein.

Morbid AppetiteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt