Kapitel 3

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Sie versuchte schon seit Stunden, sich auf das Buch zu konzentrieren, dass sie in ihren Händen hielt. Doch sie konnte sich an nichts erinnern, was sie gelesen hatte. Ihre Gedanken waren weit weg. Seufzend legte sie das Buch über Wundversorgungen weg und rieb sich verzweifelt durchs Gesicht. Sie konnte und sie wollte diesen unbekannten Mann nicht heiraten. Er machte mit ihrem Vater Geschäfte, dass hieß, er war geringstenfalls genauso gefährlich und skrupellos wie er. Sie musste hier raus. Sie musste dieses Haus, dieses Gefängnis verlassen. Sehnsüchtig schaute sie aus dem Fenster hinauf zum Mond, der sich langsam erhob. Es war eine sternenklare Nacht, dass hieß, es würde sehr kalt werden. Sie musste einen Plan zur Flucht entwickeln, doch sie würde es niemals allein hier rausschaffen. Sie brauchte Hilfe, Hobis Hilfe. Würde er sein Leben riskieren, um ihr zu helfen? Er arbeitete immerhin für ihren Vater, aber er war immer nett zu ihr, wenn sonst niemand da war. Als sich die elektrischen, kugelsicheren Rollos automatisch schlossen, verkrümelte sie sich ins Bett unter die Decke.

Er besorgte ihr heimlich neue Bücher zum Lesen. Bleistifte, wenn ihre knapp wurden und neues Papier, auf das sie Zeichnen konnte. Gelegentlich, wenn niemand sonst im Haus war, durfte sie sogar sein Handy benutzen. Er zeigte ihr lustige Videos oder neu veröffentlichte Musik. Spiele oder Tutorials, die ihr beim Zeichnen halfen. Er tröstete sie, wenn sie traurig war. Baute sie auf, wenn sie niedergeschlagen war. Brachte sie zum Lachen, wann immer er konnte. Versuchte, sie unauffällig vor den anderen Männern, wie Kihun, zu beschützen und brachte sich damit in Gefahr, wenn er nicht vorsichtig war. Er hörte ihr zu, wenn sie ihm aufgeregt von dem Buch erzählte, welches sie aktuell las. Und sie las viel. Romane, Thriller, Fantasie, Biografien, Geschichte, aber auch Sachbücher über Pflanzen, Tiere oder medizinisches Wissen. Er hatte ihr heimlich Kämpfen beigebracht und einzelne Griffe der Selbstverteidigung. Sie konnte mit seiner 9mm umgehen. Sie konnte sie in Rekordzeit auseinandernehmen, reinigen und zusammensetzen. In der Theorie konnte sie auch schießen. Doch praktische Übung hatte sie keine.

Reichte dies aus, um dass er ihr zur Flucht verhelfen würde? Doch was dann? Sie hatte nichts, keine Wertsachen, kein Geld, keine Papiere, keine Freunde. Vermutlich nicht einmal Familienangehörige, außer ihrem Vater. Zumindest kannte sie keine, aber vielleicht arbeiteten diese auch für ihn? Wem wollte sie etwas vormachen? Es war sinnlos. Sie würde dieses Gefängnis niemals lebend verlassen. Sie würde nie die Möglichkeit bekommen, Bäume und Blumen in der wirklichen Welt zu sehen. An ihnen zu riechen. Sie wachsen und blühen sehen. Es gab keine Hoffnung, dass sie jemals Tiere wo anders, als in Büchern zu sehen bekommt, geschweige denn, sie streicheln zu können. Sie würde nicht erfahren, wie sich Regen oder Schnee auf der Haut anfühlt. Wie die Sonne im Sommer ihre Wärme abgibt. Wie es ist, im Meer schwimmen zu gehen, wobei sie nicht einmal schwimmen kann. Sie war verloren. Es gab nur einen einzigen Ausweg. Einen, bei dessen Hilfe sie nicht einmal Hobi bräuchte und mit diesen Gedanken fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Es war früh am Morgen, als Hobi Kihun ablöste. Die Füße schmerzten vom langen Stehen und er sehnte sich nach einer langen Dusche und seinem Bett. Doch er wollte erst nach Sora sehen. Er wartete, bis Kihun im Erdgeschoss ankam, dann holte er sein Handy heraus und schrieb Yoongi.

„Die Verlobung findet im Festsaal des The Plaza statt. 10 Fenster an zwei Wänden, 3 Türen, eine davon Eingang zum Saal, eine Zugang zur Küche, dritte unbekannt. Name des Verlobten ist Park Shiwoo, scheint ein schmieriger Lackaffe zu sein. Es werden viele angesehen Leute da sein, also wird Yujun die meisten seiner Männer mitbringen. Ich arbeite an mehr Infos! Hab zusätzliche Infos zu einer anstehenden Waffenlieferung. Am 10.03 am Containerhafen. Wert 10.000.000 Millionen US Dollar!" er schickte die Nachricht ab und löschte diese sofort von seinem Handy. Anschließend holte er seinen Ersatzschlüssel raus, öffnete die Tür und schlich leise in den dunklen Raum. Geräuschlos schloss er die Tür. Es war so finster, dass er einen Augenblick brauchte, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Leise hörte er Sora wimmern und besorgt setzte er sich zu ihr aufs Bett. Behutsam strich er ihr durch die Haare. Wie gerne würde er ihr Leid lindern, doch er konnte es nicht.

„Hobi..." wimmerte sie leise.

„Ich bin hier, Sunshine" sprach er beruhigend und legte sich neben sie. Ohne zu zögern, kuschelte sie sich in seine starken Arme, fühlte sich unmittelbar sicherer und wohler.

„Hilf mir... Hol mich hier raus... Bitte..." hauchte sie kaum hörbar ängstlich. Schmerzhaft zog sich sein Herz zusammen. Sollte er ihr erzählen, dass er daran arbeitete? Würde sie dann ihre Rolle noch überzeugend spielen können? Er durfte nichts riskieren. Es gab nur diese eine Chance und er muss so diskret wie möglich sein. Sanft drückte er sie beschützend an sich.

„Vertraust du mir?" er spürte ihr Nicken auf seiner Brust. „Es wird alles gut werden. Solange ich hier bin, wird dir kein Leid widerfahren und ich werde nirgendwo hingehen. Bitte vertraue darauf!" bat er sie inständig und nickend kuschelte sie sich enger an ihn. Vergessen war seine Dusche und seine Schmerzen, er wollte sie jetzt nicht allein lassen, so schloss auch er seine Augen, nachdem er sicher war, dass sie erneut eingeschlafen ist.

Zwei Tage später kam die persönliche Ausstatterin ihres Vater mit einer Handvoll Kleidersäcken und Schuhkartons. Nun hieß es, ein umwerfendes Kleid und passende Schuhe zu finden. Sie bekam nicht oft Kleidung und solche Kleider hat sie noch nie getragen oder gesehen. Das erste war ein schwarzes, enganliegendes Kleid mit langen Ärmeln. Es schmeichelte ihrer Figur, doch bei der Flucht könnte es hinderlich sein. Er verzog leicht das Gesicht und schüttelte kaum merklich den Kopf, als sie ihn fragend ansah. Das zweite war ein zartes rosa, knielang und trägerfrei, der Ausschnitt so tief, dass es mehr als nur sexy war. Deutlich sah man ihr an, dass sie sich nicht sehr wohl fühlte und so lehnte sie auch dieses ab. Er fragte sich, wer die Auswahl der Kleider getroffen hat, als sie nun ein rotes, bodenlanges Kleid anhatte, dass so eng war, dass sie nur babyschritte machen konnte. Es war hochgeschlossen und obenrum mit Spitze verziert. Es sah nicht bequem aus und so landete dieses ebenfalls auf dem Stapel. Es folgte ein weißes Ungetüm. Obenrum bestand es aus einer engen Corsage, doch ab der Teile abwärts war es mehrmals ineinander gewickelt, bestückt mit dicken Blumenmustern, was eher an eine Fasching Feier erinnert. Das lehnte sie ab, bevor sie es anprobiert hatte. Nun folgte das letzte Kleid. Als sie barfuß aus dem Bad herauskam, war er sprachlos. Es war bodenlang und in mitternachtsblau. Der Träger verlief nur über eine Schulter und der obere Saum war mit Pailletten besetzt. Ab der Taille war es leicht ausgestellt. Sie sah wunderschön aus und sanft lächelte er sie an. Die Ausstatterin half ihr in die silbernen Riemchen-Sandaletten mit ziemlich hohem Stiletto -Absatz. Sie stand auf und versuchte vorsichtig ein paar Schritte damit zu laufen, doch sie verlor das Gleichgewicht. Panisch weiteten sich ihre Augen, doch er war sofort zur Stelle und fing sie auf. Stützte sie, bis sie sicher stand.

„Du hast zwei Tage, um damit laufen zu können" befahl die Ausstatterin, nahm ihre Sachen und verließ das Zimmer. Ängstlich sah Sora ihnen Beschützer an.

„Das wird schon. Ich übe mit dir" lächelte dieser sie an. „Du siehst wunderschön aus!"

„Danke..." verlegen wurde diese rot und senkte den Blick. „Lass mich nicht fallen" bat sie leise, während sie Runde für Runde durch ihr kleines Zimmer liefen.

„Niemals!" versprach er und bezog sich damit nicht nur auf das Üben.

„Warum ziehen Frauen solche Schuhe freiwillig an? Es ist kein bisschen bequem. Es drückt, die Füße tun weh und ich bekomme Blasen" jammerte sie später, während sie sich seufzend aufs Bett setzte.

„Ich vermute, weil sie damit größer wirken? Oder weil sie es schön finden? Vielleicht gewöhnt man sich daran" schmunzelnd hockte er sich vor ihr und half ihr aus den Schuhen heraus. Er holte aus dem Bad den Erste Hilfe Kasten und ein feuchtes Tuch.

„Das werde ich wohl nie erfahren" zuckte sie mit den Achseln. „Das kann ich alleine" protestierend wollte sie ihm das Tuch abnehmen, doch er ließ sich nicht beirren.

„Lass mich dir helfen, Sunshine. Ruh dich aus" bat er sie und säuberte vorsichtig ihre Blasen. Anschließend trug er sanft antiseptische Wundsalbe drauf und beklebte sie sorgfältig mit Pflaster. „Außerdem kann ich so anwenden, was ich von dir und deinen Büchern gelernt habe" grinste er und sie lächelte nur. Froh darüber, dass er tatsächlich von ihr etwas lernen konnte.

So far away und doch so nah (Suga/Hobi FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt