Kapitel 1: Das Sammeln von Zucker

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Heute ist der letzte Schultag an der NSG, oder in ausgeschriebener Form, der Northern School for Girls.
Es ist übrigens ein Internat, auch wenn man das in dem nicht besonders kreativen Titel absolut nicht erkennen kann.

Meine Familie wohnt unten im Süden des Landes, weshalb sie mich logischerweise hoch in den Norden schickte.

Robert, der Fahrer mit dem seltsamen Akzent, hat meine Koffer in den Kofferraum gepackt und meine Eltern haben mich ohne zu Lächeln oder ein Träne zu vergießen oder eine sonstige emotionale Regung zu zeigen, in die tiefschwarze Limousine gesteckt.

Die Fahrt dauerte mehrere Stunden, ich habe in der Zeit zwei Bücher gelesen. Beide hatten extrem unsympathische Protagonisten, daran erinnere ich mich noch. Die Titel habe ich vergessen.

Fünf Jahre ist diese Autofahrt und meine darauf folgende Ankunft an der NSG jetzt her, fünf Jahre sind vergangen, seit ich meine Famillie das letzte Mal gesehen habe.

Meine Mutter, mit den vielen Sommersprossen im Gesicht.

Meinen Vater, mit dem albernen Monokel im rechten Auge.

Meine beiden Schwestern, mit den dicken, welligen schwarzen Haaren und den absolut pickelfreien Gesichtern.

Meine Cousins und Cousinen und natürlich meine Tanten und Onkels.
Meine Großeltern.

Ich weiß gar nicht, ob sie alle noch leben. Vermutlich ist mindestens einer meiner Opas tot: Der eine hat geraucht und der andere war Alkoholiker.
Tot ist vermutlich der Raucher.

Vielleicht sind aber auch beide längst gestorben, ich weiß es wirklich nicht, denn in der Zeit, die ich hier verbracht habe, kamen keine Briefe, keine Anrufe – jeden einzigen Besuchstag habe ich auf meinem Zimmer verbracht und versucht, das schrille Lachen der anderen Mädchen zu verdrängen, wenn sie draußen ihren Eltern das Gelände zeigten und Erdbeereis mit Sahne und Zuckerstreuseln in rauen Mengen verschlungen.

Ich mag sowieso kein Erdbeereis und Zuckerstreusel sind mir zu süß.

Die anderen Mädchen haben sich anfangs noch bemüht, nette Fragen zu stellen und sich bei den Mahlzeiten zu mir gesetzt, doch dann hat eine von ihnen die Salzvorräte auf meinem Zimmer entdeckt (das Essen hier war immer ziemlich schlecht gewürzt) und den anderen erzählt, ich würde mit Drogen dealen.
Dann hat niemand mehr mit mir geredet, aus Angst, dass ich mit ihnen rauchen wollte oder was auch immer.

Ich verstehe zwar immer noch nicht, wie man so dumm sein kann und Salz mit Crack oder sonst was zu verwechseln, aber die meisten hier haben sowieso nur den IQ einer Scheibe Toast.

Das ist auch der Grund, wieso ich keine Freundinnen habe.

Wie gesagt, anfangs waren sie noch freundlich und hilfsbereit, aber dann habe ich sie wohl zu selten komplimentiert oder umarmt oder angelächelt. Als dann noch die Sache mit den Drogen kam, haben sie mich ignoriert, als wären sie meine Familie.

Und heute ist der letzte Schultag hier.
Nicht nur für mich – ich wurde nicht von der Schule geschmissen, falls man das Denken sollte. Ich bin zu schlau für so etwas.

Es ist nicht so, dass ich mich immer strikt an alle Regeln halte. Ich bin nur einfach intelligent genug, nicht dabei erwischt zu werden. Außerdem breche ich auch wirklich keine Regeln, was das ganze wieder weniger eindrucksvoll klingen lässt, aber leider die Wahrheit ist. 

Heute macht einfach nur die Schule zu. Es ist wie in den Büchern.

Das Internat ist pleite.

Einige Mädchen haben noch versucht, irgendwelche dummen Spendenaktionen auf die Beine zu stellen, aber wie erwartet hat das alles nicht funktioniert.

Girl of Blood - [ONC2024]Donde viven las historias. Descúbrelo ahora