Kapitel 16: Seil und Messer

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Der Unterricht, wenn man es denn so nennen kann, vergeht zum Ende hin erstaunlich schnell.

Ich unterhalte mich noch mit Amelya, Nathan und Edward über ihre Albträume, und gerade als Edward mir davon erzählt, wie die Spinne tausend kleine Löcher in die blutüberströmte Wand gebissen hat, beendet Mr Mors die Stunde und verschwindet nach ein paar Abschiedsworten in dem Hinterraum der Hütte.

Wir anderen verlassen nacheinander die Hütte. William unterhält sich mit Edward, Amelya lacht über etwas, was Owen gesagt hat.

Gabrielle tippt auf ihrem Handy herum und schüttelt es dann wütend: „Blödes Ding, gestern hast du das WLAN doch noch gefunden, du Miststück."

Sie kennt sich wohl nicht besonders gut mit Technik aus, und weiß deshalb anscheinend nicht, dass man WLAN nicht dadurch findet, dass man das Gerät quält.

Als ich zurück in Zimmer 73 bin, sitzt Christine schon an ihrem Schreibtisch, vor ihr liegen die Hausaufgaben, die wie für Mathe aufbekommen haben.

Die Rechnungen wären nicht besonders kompliziert, hat unsere Lehrerin verkündet, aber ich weiß nicht, ob ich ihr das wirklich glaube.

„Ah, du bist zurück. Wie war es so in der Hütte des Verderbens?", fragt Christine und legt ihren Bleistift hin. „Weißt du schon, was für eine tolle Rolle du übernehmen darfst?"

„Wir sind gerade noch dabei, unseren unterdrückten Schmerz miteinander zu teilen.", antworte ich und hänge meine Jacke an einen der Haken. „Es war eigentlich ganz in Ordnung. Aber kennst du Gabrielle?"

„Natürlich. Sie ist Anti-tarierin. Das heißt, sie isst so ziemlich ausschließlich Fleisch."

„Das überrascht mich irgendwie nicht.", antworte ich und setzte mich an meinen eigenen Schreibtisch.

Die Matheaufgaben sind tatsächlich nicht besonders kompliziert, ich bin nach circa zehn Minuten fertig. Mary kommt irgendwann ebenfalls ins Zimmer und erzählt sofort von den Stoffen, die sie heute gesehen hat.

Dann fängt auch sie an mit ihren Mathehausaufgaben.

Je länger ich nachdenke, und meinen Stift grundlos über die Tischplatte rolle, desto deutlicher wird mir klar, dass ich heute wieder durch die Wand muss.

Nicht, weil ich unbedingt will – ich muss einfach erfahren, was dort hinter los ist. Was sich alles hinter den Mauern dieser Schule abspielt.

Vielleicht liegt es daran, dass die Direktorin so viel wusste, und gleichzeitig so wenig gesagt hat, aber ich muss erfahren, was hier los ist.
Denn wieso sollte man versuchen, ein fünfzehnjähriges Mädchen von hinten abzustechen, wenn man nicht einmal wüsste, wer sie wirklich ist?

Dass man mich abstechen will, ist da schon logischer. Das klingt jetzt zwar, als wäre ich ein großer Star, aber wenn ich dem, was meine Tante mir gestern erzählt hat, Glauben schenken will, denken meine Eltern, ich wäre tot – oder dachten sie zumindest.

Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie, wenn sie mich angeblich „wieder haben" wollen, meinen Verlust so einfach akzeptieren.
Es ist vielleicht weit hergeholt, dass sie mich jetzt töten wollen, bevor ich zu viel erfahre, aber ist das alles hier nicht sowieso schon komplett verrückt?

Ist es nicht schon wieder normal, wenn es noch ein wenig verrückter wird?

Der Abend kommt schnell, schneller als gedacht, und anders als gestern Abend, muss ich mich heute stark beherrschen, nicht einzuschlafen.

Das Kissen ist weich, die Decke ist warm – also zwinge ich mich, darüber nachzudenken, wie einfach ich jetzt ermordet werden könnte, erinnere mich daran, dass hinter jeder Ecke ein Killerclown mit Kettensäge stehen könnte. 

Girl of Blood - [ONC2024]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt