Kapitel 7: Cinderella

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Die Fahrt verläuft vorerst ohne weitere Zwischenfälle.

Miss Taylor gibt unser für sie vermutlich sehr uninteressantes Gespräch komplett auf und fängt an, leise irgendein Lied zu summen.

Die Melodie kommt mir vage bekannt vor, aber mir fällt der genaue Titel nicht ein.

Dann, ziemlich ruckartig, bremst Miss Taylor. Ich höre die Reifen kreischen, und meine Füße rutschen etwas nach vorne.
Dieses mal war ich immerhin einigeraßen auf das Bremsen vorbereitet und halte meinen Rucksack zwischen die Rückenlehne der vorderen Reihe und mein Gesicht, um größere Schäden zu vermeiden.

Es funktioniert sehr gut.

Mein Magen fliegt zwar scheinbar aus meinem Körper und dann noch zwei Meter weiter, aber sonst geht es mir ganz toll.

„Wir sind da.", ruft Miss Taylor mir zu. „Aussteigen!"

Ich werfe meinen Rucksack auf meinen Rücken, ziehe mich an der Rückenlehne vor mir hoch und laufe dann hinter Miss Taylor aus dem Bus.

Um mich herum sind immer noch Bäume. Hohe Tannen mit schwarzen Stämmen und dunkelgrünen Nadeln, die Äste anderer Bäume sind mit orangefarbenen oder roten Blättern überzogen.

Das sind dann aber natürlich logischerweise keine Tannen mehr.

„Guten Tag, Miss Taylor.", sagt ein Mann im schwarzen Anzug, der direkt neben dem Bus steht. Ich zucke heftig zusammen, als ich ihn sehe und verfluche mich selbst, weil ich nicht besser auf meine Umgebung geachtet habe.
Die Knöpfe an seiner Jacke glänzen so silbern, als wären sie gerade frisch poliert worden. Vielleicht hatte er ja wirklich nichts besseres zu tun, als bin einem Putztuch immer wieder über seine Jacke zu wischen.

Miss Taylor nickt ihm auf eine alberne Weise und doch in gewissem Maße höflich zu: „Mr Gilbert. Sie kennen ihren Job."

Er nickt und geht ohne irgendeine weitere emotionale Regung zum Ende des Busses. Dorthin, wo meine Koffer verstaut liegen - man nennt es auch einen Kofferraum.

„Genieve.", sagt Miss Taylor und legt eine Hand kurz auf meine Schulter. Es soll eine freundliche Geste sein, aber sie passt überhaupt nicht zu der eben noch so ruppigen Art von ihr.

„Deinen Rucksack kannst du mitnehmen. Wir gehen jetzt erst einmal los zur Schule. Entweder gehen wir sofort zur Direktorin, oder direkt zu deinen Zimmermitbewohnerinnen -"

„Wie heißen sie?", frage ich.

„Miss Taylor."

„Ich meinte meine Zimmermitbewohnerinen.", ergänze ich genervt.

„Ich weiß es nicht. Du wirst es noch erfahren. Und jetzt komm, ich will möglichst früh meine Freizeit haben, sonst sind die guten Donuts wieder ausverkauft! Aber um frei zu haben, muss ich erst einmal dich los werden."

„Irgendwo habe ich diesen Satz schon einmal gehört.", murmle ich und bin selbst davon überrascht, wie bitter das klingt.

„Keine nette Familie gehabt, was?", meint Miss Taylor mitfühlend. „Das ist mir aber ehrlich gesagt ziemlich egal. Denn deine Familie siehst du jetzt eine Weile sowieso nicht mehr.

Also, leg einen Schritt zu, Miss Lysander."

Es ist wirklich bemerkenswert, wie schnell Miss Taylor von Miss Ich-bin-für-dich da, zu Miss Mein-Gott-stirb-einfach wechseln kann.

Seufzend ziehe ich die Riemen meines Rucksacks über beide Schultern und folge dann Miss Taylor.

Mr Gilbert hingegen folgt uns nicht. Zumindest nicht sofort.

Girl of Blood - [ONC2024]Where stories live. Discover now