Kapitel 4: Glasscherben

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Es gibt Leute, die im Auto schlafen können.

Ich gehöre nicht dazu.

In einem Auto fühle ich mich grundsätzlich unwohl, zumindest in den Autos meiner Familie.
Also bin ich wach, und zwar in jeder einzelnen Minute dieser viel zu langen Autofahrt.

Ich gucke auf meine Uhr, zum geschätzt dreißigsten Mal in den letzten drei Minuten, als würde die Zeit dadurch schneller vergehen.
Spoiler: Sie vergeht nur noch langsamer.
Vor lauter Langeweile fange ich irgendwann an, den Sekundenzeiger zu beobachten.

Krass, jetzt überholt er schon wieder die zwölf.

Ich unterdrücke ein Seufzen, während der Zeiger die nächste Runde dreht.

„Wir sind bald da.", ruft Edgar von vorne und biegt in eine im Wald liegende Straße ein.

Im Radio kommt ein furchtbares Lied. Die Melodie ist eintönig, der sehr unkreative Text wiederholt sich in Endlosschleife.
Wenn ich noch länger zuhören muss, wird mein Gehirn meinem Herz noch befehlen einen Infarkt zu bekommen.

„Entschuldigung?"

„Ja?", fragt Edgar.

„Könnten sie das Radio vielleicht ausschalten? Bitte?"

Edgar antwortete nicht, aber er dreht glücklicherweise die Lautstärke hinunter.

„Dankeschön.", sage ich und lehne mich wieder zurück. Vielleicht schaffe ich es ja doch, irgendwie einzuschlafen?

Vermutlich nicht, aber Optimismus ist etwas, worin ich mich sowieso üben sollte, also -

„AAH!"
Das Auto bricht ruckartig nach rechts aus, ich klammere mich instinktiv an dem Autogurt fest.

Also.
Der Tod.
Das kam zugegebenermaßen ein wenig schneller als erwartet.

Ich versuche, meinen Kopf möglichst still zu halten. Wovor ich jetzt am meisten Angst habe, wäre ein Genickbruch, oder etwas in dieser Richtung, denn ich bin ganz ehrlich noch absolut nicht bereit zu sterben.

Also, Kopf nicht zu weit oben tragen, während das Auto weiter über die Straße schlingert und Edgar schreit, als würde er gerade bei lebendigem Leibe verbrennen. 

Das Lenkrad dreht sich wie ein Karussell im Freizeitpark, irgendwann lässt Edgar das Ding schließlich los und hält sich stattdessen die großen Ohren zu.

Tja, und dann kommt der Baum.

Es gibt einen lauten Knall, ich werde ruckartig nach vorne gerissen, der Sicherheitsgurt hält mich unsanft zurück und drückt in meinen Hals.
Ich höre ein furchtbares Splittern, als der vorderste Ast des Ahornbaums die Frontscheibe durchschlägt.

Edgars Nacken knackt unschön und ich zwinge mich, ihn nicht anzusehen. Ich neige nämlich dazu, von dieser Art Bildern zu träumen.

Zuerst bleibe ich einfach nur sitzen.

Mein Herz schlägt sehr schnell und sehr laut, aber es schlägt immerhin. 

Ich wende langsam den Kopf. Um mich herum sind Glassplitter und vorne, ganz leise, läuft immer noch das Radio.

Ich muss hier raus.

Vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen wische ich ein paar der Splitter beiseite und öffne den Anschnallgurt.

Ein paar von den winzigen Mistdingern bohren sich in meine Fingerspitzen, als ich mich langsam aufrichte.

Ich habe unglaubliches Glück gehabt.

Girl of Blood - [ONC2024]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt