Kapitel 6: Miss Taylor

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Zwischen den Bäumen erkenne ich grob die Umrisse eines kleinen schwarzen Busses.

Er sieht eigentlich aus wie die typischen gelben Schulbusse, nur ist er sehr viel kleiner und so schwarz wie die Stiefel meiner Tante.
Allerdings ohne violette Schnallen, aber ich denke, das ist selbsterklärend.

Tante Aurelia legt meine Koffer auf den Boden, als wir dem Bus langsam näher kommen und zieht sich die Maske und das daran befestigte Netz endgültig vom Kopf.

Ihre kastanienbraunen Haare, die mittlerweile von weißen Strähnen durchzogen sind, wurden durch den Hut ziemlich plattgedrückt, aber meine Tante versucht nicht einmal, sie irgendwie zu ordnen oder aufzurichten.

Stattdessen zieht sie eine blonde Perücke aus ihrer wohl sehr großen Jackentasche und setzt sie geschickt auf.

Danach folgt eine ziemlich billig aussehende Sonnenbrille mit blauem Blumenmuster an der Seite, sodass ihre Augen wieder nur zu erahnen sind.

Ihr vernarbtes Kinn wird schließlich verdeckt von dem Kragen, den meine Tante schwungvoll aufklappt, und den sie scheinbar von Dracula geklaut hat.

„Ich würde sehr gerne eine Frage stellen.", sage ich spöttisch.

„Dafür fehlt uns die Zeit. Beziehungsweise mir. Also tu einfach vorerst, was ich dir sage: Du bist Genieve Ciel Lysander und deine Eltern haben dich aus dem Auto geschmissen, deshalb bist du allein im Wald und brauchst Hilfe mit deinen Koffern.

Wenn du mich in der Schule suchst, frag nach Mrs Nuage. Sei einfach du selbst und man wird dir sagen, wo ich bin. Glaub mir."

„Und mit „ich selbst", meinst du meine falsche Identität, oder?!"

„Nein, ja ...", meine Tante stöhnt ungeduldig und sieht zum Bus. „Vom Charakter her bist du bitte ganz du selbst. Sag, was du sonst auch sagst, denk, wie du sonst auch denkst. Das einzige, was anders ist, ist deine Vorgeschichte und dein Name. Und jetzt komm!"

Und mit diesen Worten stößt sie mich vorwärts, sodass ich an den Bäumen vorbei auf den Bus zu stolpere, während meine Tante Aurelia leise pfeifend nach links abbiegt, fast gegen einen Baum knallt und dann in einem eher gemütlichen Tempo davon geht.

„Warte -", rufe ich und bemerke dann, dass jemand aus dem Bus aussteigt. Verdammt.

„Miss Lysander?", ruft die Busfahrerin. Ihre Stimme klingt, als hätte sie soeben eine Zigarette geraucht. Und als wäre diese Zigarette nicht ihre erste gewesen.

„Ja? Ähm ... könnten sie mir vielleicht mit meinen Koffern helfen?", rufe ich zurück.

Ich höre ein sehr genervtes Stöhnen, dann kommt die Busfahrerin um den Bus herum auf mich zu gestapft.

Sie ist kleiner als ich.

„Drei Koffer und trägt nur einen! Die Jugend heutzutage ist der Horror, sag ich dir! Ich seid doch alle verwöhnt und kümmert euch nur um euch selbst und eure ... Nägel.", schimpft sie und greift nach den beiden Koffern, die meine Tante vor nur wenigen Minuten auf den Boden gelegt hat.

Ich sehe reflexartig meine Fingernägel an, genau wie die Busfahrerin.

Sie schnalzt abwertend mit der Zunge, als sie meine mit winzig kleinen Schnitten (Ich möchte kurz anmerken, dass ich kein großer Fan von zerspringenden Glasscheiben bin) überzogenen Finger sieht: „Na ja ... mein Gott, was hast du denn für Streichholzfinger?!"

„Ist doch praktisch. Dann brauche ich nur noch ein Feuerzeug.", entgegne ich. Mein Gott, was für ein schlechter Spruch.

„Genieve Ciel Lysander also?! Scheiß Name, das muss ich dir sagen.", meint die Busfahreirn kopfschüttelnd.

Girl of Blood - [ONC2024]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt