Vom Chamäleon in der Skittlestüte | ONC 2024

9. KAPITEL

TINSLEY

»Das ist ein Chamäleon«, sagt Burn überrascht. Lachend lege ich den Kopf schief und betrachte Master Oogway liebevoll, während er seine Klaue wieder zurück auf das geschnitzte Chamäleon von Burn sinken lässt.

»Genau genommen ist er mein Chamäleon.« Meine Zustimmung bringt wieder ein ungläubiges Lachen bei Burn hervor. In jeder Hinsicht verwundert betrachtet er, mit schief gelegtem Kopf, mein Hausreptil. Feuchte Strähnen fallen in seine Stirn und verfangen sich in seinen Wimpern. Sein hellgraues Shirt klebt ihm an der Haut, wodurch ich endlich die Gelegenheit habe, seinen Körperbau zu bewundern.

Straffe athletische Brustmuskeln und den Ansatz eines Sixpacks kann ich erkennen, bevor ich mich zur Ordnung rufe, damit ich kein genüssliches Seufzen freilasse. »Master Oogway ist ein Pantherchamäleon und hat vor zwei Wochen seinen vierten Geburtstag gefeiert«, erzähle ich stolz. Vorsichtig stelle ich ihn mit der Holzfigur auf den Verkaufstresen und lehne mich mit verschränkten Armen dagegen.

»Du hast dein Chamäleon nach der Schildkröte aus Kung Fu Panda benannt?« Begeistert nicke ich, denn bislang hat niemand den Ursprung des Namens erraten. Abgesehen von Lexi.

»Ich fand, der Name passt zu ihm.« Grinsend zucke ich die Schultern. Das heulende Pfeifen des Windes lässt mich schaudern. Stumm bete ich, dass die Markise nicht davonfliegt, wie sie es beim letzten Sturm getan hat. Das würde mich eine Stange Geld kosten, dass ich im Augenblick nicht habe.

Plötzlich ist Burn direkt neben mir. Er hockt sich vor den Verkaufstresen, überkreuzt die Arme und legt sein Kinn darauf ab. Mein Blick verhakt sich in seinem Nacken, wo Regentropfen unter den Saum seines Shirts kullern. Neugierig betrachtet er mein Chamäleon und schmunzelt jedes Mal, wenn Master Oogway den Kopf dreht oder die Augen bewegt.

»Du bist außergewöhnlich, Tinsley Cross«, murmelt er und wirft einen Blick zu mir hinauf. Langsam erhebt er sich und schaut mir dabei konstant in die Augen. Tief atme ich durch und bin froh, mich heute für eine Bluse mit langen Ärmeln entschieden zu haben. Sie versteckt die Gänsehaut, die auf meinem Körper entsteht. »Weshalb ein Chamäleon?« Auf seinem Gesicht erscheint ein forschender Ausdruck, der mich kurzzeitig nervös macht. Jedoch verbiete ich mir in seiner Gegenwart eine derartige Gefühlsregung.

Burn ist kein Fiesling. Er ist ein netter Kerl. Witzig, charmant, intelligent, gebildet und umwerfend attraktiv.

»Ich wollte ein Tier, das ich mit in den Laden nehmen kann. Allerdings haben viele Menschen Allergien gegen Hunde oder Katzen. Ein Pferd hätte den Rahmen gesprengt und Mäuse verursachen – genau wie Ratten oder Spinnen – Panik bei Menschen. Außerdem hat der Mann in der Tierhandlung gesagt, sie würden ihn töten, sollte er kein Zuhause finden, weil er dann zu alt zum Verkaufen wäre. Kurzerhand habe ich ihn mitgenommen und seitdem wohnt er hier«, erzähle ich und fasse mein Laden mit einer Geste mit ein.

»Du meinst, er wohnt hier? Hier, hier? Im Laden?« Burn klingt total überrumpelt. »Knabbert er denn keine Bücher an?«, fragt er verdutzt. Wieder gleiten seine Augen zu Master Oogway. Der Ausdruck in dem Ozeanblau sorgt für zittrige Knie meinerseits.

»Ist er dir nie aufgefallen?«, amüsiere ich mich über Burns Unglauben. »Und nein. Er hat bisher noch keines der Bücher beschädigt oder Telefonnummern hineingeschrieben.« Burn blinzelt verwundert lächelnd und mein Herz schmilzt. Während der Sturm vor dem Laden wütet, herrscht hier drin heimelige Ruhe.

»Wie soll mir ein Chamäleon, ein Reptil, das dafür bekannt ist, die Farbe zu wechseln, in einem Buchladen auffallen? Meine Konzentration liegt bei den Büchern, allerdings muss ich gestehen, dass sich allmählich eine andere Konzentrationsquelle in meinem Kopf ausbreitet, sobald ich deinen Laden betrete«, raunt er verheißungsvoll. Meine Kehle wird eng, während ich seinen Worten lausche. Ein Donnergrollen erschüttert die Stadt, lässt den Boden im Einklang mit meinem Herzen vibrieren.