19. KAPITEL

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BURN

Mein Shirt ist durchnässt, als Tinsley sich von mir löst. Ihr Gesicht sieht aus, als würde sie unfassbar viel weinen. Erneut scannen meine Augen jeden Zentimeter ihrer nackten Haut, den ich sehen kann. Bis auf die deutlich sichtbare Abzeichnung ihrer Knochen kann ich keine Verletzungen oder Ähnliches sehen. Nichtsdestotrotz verschwindet das mulmige Gefühl in meinem Magen nicht. Schniefend geht sie einen Schritt rückwärts, wischt sich über die Wangen und dreht den Kopf. Ihre Augen gleiten durch meine Wohnung.

»Hier sieht es aus wie damals«, flüstert sie. Ein zittriges Lächeln tanzt über ihre Lippen, bevor es verschwindet.

»Ich habe nicht viel verändert«, bestätige ich. Meine Stimme klingt merkwürdig. »Wo bist du gewesen, Tinsley?« Die Frage brennt seit Jahren auf meiner Zunge, aber Lexi wollte mir nie eine Antwort geben. Tinsley schluckt, leckt sich die Lippen und fummelt an ihren Fingernägeln herum.

»Es gab einige Themen, um die ich mich kümmern musste«, sagt sie schwach.

»Das ist eine Antwort, die mir mehr Rätsel aufgibt, als Erklärungen liefert. Was ist los?« Ich kann spüren, dass ich bohre, allerdings habe ich keine Wahl. Das drängende Bedürfnis nach Antworten pulsiert in meinem Herzen gemeinsam mit jedem Schlag.

»Vielleicht sollten wir uns setzen«, murmelt sie nachdenklich. Sofort schnappe ich mir ihren Tee, stelle ihn auf den Couchtisch und klopfe auffordernd auf die freie Fläche neben mir. Tinsley schmunzelt leicht, dann sinkt sie auf das Polster. Zaghaft lege ich eine Decke über ihren Körper, weil sie zittert. Ein weiteres Mal bekomme ich ein dankbares Lächeln.

»Wir sitzen. Sag mir bitte, was los ist, Tinsley«, flehe ich. Angespannt verziehe ich die Stirn. »Dein optischer Zustand macht mir Angst, was keineswegs heißt, dass du nicht nach wie vor die schönste Frau der Welt für mich bist.« Ein Kloß bildet sich in meinem Rachen, als Tinsley mich überrascht ansieht. »Guck nicht so. Ich liebe dich, obwohl du fünf Jahre spurlos verschwunden warst. An meinen Gefühlen hat sich nichts verändert, abgesehen von dem Unverständnis für dein Verhalten.« Ein Schimmer durchzieht ihre Augen und sie presst sich eine Hand auf den Mund. Die Befürchtung, dass sie gleich aufspringen und abhauen wird, bringt mich dazu, nach ihrer anderen Hand zu greifen. Ich muss sie festhalten, damit sie nicht davonfliegt. »Bitte erklär es mir, Tinsley«, wiederhole ich. Langsam nickt sie, lässt die Hand sinken und positioniert sie auf meinem Handrücken.

Sie ist eiskalt, weshalb ich ihre Finger fester umfasse, um sie zu wärmen. Am liebsten würde ich sie an mich ziehen und küssen, bis jeder Tag ohne sie vergessen ist. Ich bin dankbar dafür, dass sie in genau diesem Moment tief einatmet und den Mund öffnet. »Als ich neunzehn war, habe ich bei einem schweren Unfall jemanden verloren.« Die Worte töten jeden Funken Wärme in meinem Körper. »Lexis großer Bruder Lucian. Er war meine erste große Liebe und ich habe mich davon nie ganz erholen können. Irgendwie habe ich ... weitergelebt, obwohl ich nicht gelebt habe. In meinem Inneren ist ein Teil gestorben. Seitdem verschließe ich mich so ziemlich jeder zwischenmenschlichen Beziehung, besonders, wenn ich emotional stark involviert werden könnte«, erzählt sie. Nervös leckt sie sich über die Lippen und senkt den Blick auf unsere Hände. Sanft krauelt ihr Daumen über meine Finger hinweg. Ein Gefühl, das ich die letzten Jahre vermisst habe. Mich erschreckt die Tatsache, dass Lexi einen großen Bruder gehabt und nie einen Ton darüber verloren hat, dass Tinsley ihn geliebt hat. Lexi hat auch nie erzählt, dass er gestorben ist oder wie schwer das Ereignis auf Tinsley lastet. Ein Funken Wut glimmt in meinem Inneren, aber das Feuer bleibt aus. »Wir hatten gerade unseren Highschoolabschluss in der Tasche und wollten uns bei einer Party treffen. Lucian ist niemals dort angekommen und ich habe erst am nächsten Morgen erfahren, dass er qualvoll verblutet ist, während ich verärgert über seine Unerreichbarkeit ausgelassen gefeiert habe.« Ihre Augen füllen sich mit Tränen und sie blinzelt einige Male. Schnaufend hebt sie den Kopf in den Nacken und starrt an die Zimmerdecke. Salzige Tränen tropfen von ihrem Kinn auf meine Arme. Ich halte die Klappe, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. »Seitdem habe ich große Schwierigkeiten, Menschen an mich heranzulassen, weil ich sie verlieren könnte. Ich traue mich nicht, jemanden in mein Herz zu lassen, damit es nicht so wehtut, wenn ich die Person verliere. Verstehst du?« Benommen schüttle ich den Kopf, woraufhin Tinsley die Stirn runzelt. Angestrengt unterdrücke ich den Impuls, zu schlucken. Für Tinsley wird meine Erkrankung einem Todesurteil gleichkommen, wenn ich sie richtig verstehe. Ich kann ihr davon nichts erzählen. »Ich bin gegangen, weil ich mich sehr schnell, sehr stark in dich verliebt habe, Burn, und damit bin ich überfordert gewesen. Ich bin es noch, weil die Gefühle nicht aufgehört haben, obwohl ich dich in den letzten Jahren überhaupt nicht gesehen habe. Es macht mir Angst, wie ich mich fühle, wenn ich bei dir bin und es macht mir Angst, dass die Gefühle viel stärker zurückgekommen sind, als ich dich eben im Treppenhaus gesehen habe. Aber ich habe keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen, Burn«, wimmert sie. Ein Schluchzen bricht aus ihrem Rachen und ich löse unsere verknoteten Hände, um sie an mich zu ziehen. Tinsleys Geruch steigt mir in die Nase und setzt sich in meinem gesamten Körper fest. »Ich kann nicht mehr, weil ich dich brauche.«

Vom Chamäleon in der Skittlestüte | ONC 2024Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt