22. KAPITEL

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BURN

Murrend rolle ich mich auf die andere Seite und taste nach Tinsleys Körper. Ihre Bettseite ist kalt. Umgehend verfliegt die Müdigkeit und ich reiße die Augen auf. Das Kissen ist leer, die Decke am Fußende gefaltet. Meine müden Augen scannen mein Apartment. Tinsleys Reisetasche ist weg, ebenso wie der Karton und ihre Handtasche. Lediglich die Geschenktüte steht auf der Anrichte neben der Küchenzeile. Eisige Kälte breitet sich in meinen Eingeweiden aus. Wir haben die ganze Nacht geredet, nachdem wir Sex hatten. Wir haben nackt kuschelnd in meinem Bett gelegen und uns erzählt, was in den letzten Jahren passiert ist. Bis ich, mit Tinsleys Rücken an meine Brust gedrückt, eingeschlafen bin. Es hat sich wohlig angefühlt. Zittrig greife ich nach meinem Handy, aber ich kann sie nicht anrufen, weil ihre alte Nummer nicht mehr existiert. Das Handy landet auf meinem Nachttisch und ich raufe mir die Haare.

»Tinsley?«, rufe ich. Stille dominiert das Zimmer und auch aus dem Badezimmer sind keine Geräusche zu hören. Sie ist weg. Abgehauen. Schon wieder.

Der eisige Klotz in meinem Magen offenbart mir die Bestätigung meiner Befürchtung, denn genauso habe ich mich gefühlt, als Tinsley das Bitterberry geschlossen hat und davongelaufen ist. Sie hat mich schon wieder verlassen.

Und erneut bricht mein Herz in tausend Einzelteile, allerdings schneiden die Bruchstücke dieses Mal jeden Zentimeter meiner Organe auf und ich sinke keuchend auf die Matratze zurück.

Bereits heute Nacht hatte ich das Gefühl, obwohl sie mir alles erzählt hat und so ehrlich gewesen ist, wie nie zuvor, dass sie nicht bei mir bleiben wird.

Meine Hände zittern, während ich nach meinem Medikament greife und mich in die Routine flüchte. Ich kann nicht zusammenbrechen, weil ich es Eryx nicht erklären kann, ohne daran vollständig zugrunde zu gehen. Gestern Abend habe ich alle Warnungen in den Wind geschlagen, die mein Herz gebrüllt hat. Jede Vorsichtsmaßnahme, um es zu schützen, habe ich vergessen. Alle Stimmen in meinem Kopf habe ich stumm geschaltet. Jetzt muss ich dafür büßen.

In den nächsten vier Tagen erlaube ich mir das Leid. Ich heule und beschimpfe Tinsley gedanklich. Schmeiße die Geschenktüte in den Mülleimer, nachdem ich den Inhalt gesehen habe, von dem ich mich nicht trennen kann. Es sind die verdammten Sticker, die sie damals über die Telefonnummer geklebt hat und eine besondere Ausgabe von ihrem Lieblingsbuch. Ein Buch, das mich ihr näher gebracht hat. Zwar bringe ich es nicht übers Herz, sie zu entsorgen, aber immerhin lasse ich meine Wut an der Tüte aus. Bewusst ignoriere ich, dass sie mit Seidenpapier ausgekleidet ist, das mit Chamäleons bedruckt wurde.

Ich fühle mich, vier Tage später, wie Tinsley gesagt hat. Wie ein Chamäleon in der Skittlestüte. Verwirrt, nervös und überfordert. Ich treffe nicht den richtigen Ton, ganz gleich in welchem Zusammenhang.

Eryx stellt keine Fragen und nimmt meine miese Laune hin, allerdings zickt meine Nichte mich an, als ich gereizt auf eine Frage reagiere. Dann redet sie für einige Tage kein Ton mehr mit mir, bis ich mich mit einem Kalligrafieset entschuldige.

An Silvester fasse ich mir ein Herz und treffe einen Vorsatz. Ich werde wieder lesen. Nie wieder Dark Romance, aber blutrünstige Horrorbücher, in denen bescheuerter Frauen abgemurkst werden.

Im Februar habe ich mein erstes Date nach sechs Jahren und stelle mich unfassbar dämlich an. Nichtsdestotrotz gibt mir Emilia eine Chance. Und noch eine. Und noch eine. Bis ich endlich wieder ein gewöhnlicher Kerl aus einer Kleinstadt bin, dem einmal das Herz zerfetzt worden ist.

Burn Keeves, der Bruchstücktyp, der einige Zeit gebraucht hat, um seine Scherben zusammenzusetzen. Burn Keeves, dessen Vater an einer Alkoholvergiftung elendig verreckt ist und dessen Mutter sich keinen Deut um ihn schert. Burn Keeves, der Onkel von zwei wunderhübschen Mädchen. Burn Keeves, der niemals von Tinsley Cross loskommen wird, ganz gleich, wohin sie verschwindet.

Vom Chamäleon in der Skittlestüte | ONC 2024Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt