✧Kapitel 1✧

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Meine Geschichte beginnt, wie viele andere Geschichten auch, mit einem roten Warnsignal. Rot ist für uns kein gutes Zeichen, aber es ist gleichzeitig auch das häufigste. Es breitet sich wie ein Blitzeinschlag vom Auslösepunkt aus und verästelt sich, bis alle, die in vertretbarer Nähe sind, rot leuchten. Dann wuseln wir los und kümmern uns um das Problem.

Genau so war es auch an dem betreffenden Tag. Ich war ziemlich weit entfernt von dem Problempunkt, deswegen begann mein Glühen erst, als die Pfade, die das Licht nahm, sich schon sehr weit verzweigt hatten.

An der Stelle muss ich ein Geständnis machen: Ich bin ein bisschen übereifrig. Wenn ich weiß, dass es ein Problem gibt, von dem ich erst spät erfahren habe, dann habe ich es umso eiliger, bei besagtem Problem zur Stelle zu sein.

Also krabbelte ich auf meinen acht kleinen Beinen los und gab mir alle Mühe, die etwa zwanzig anderen Lemminge zu überholen, die sich gleichzeitig mit mir auf den Weg gemacht hatten. Dabei schreckte ich auch nicht davor zurück, manchmal den Umweg über die Lüftungsschachtwände zu nehmen, wenn ich dadurch an einigen langsameren Exemplaren meiner Art vorbeikommen konnte.

Eine Karte der Perseus brauchte ich dafür nicht. Wenn es irgendwo ein Problem gibt, dann realisiert der kleine Chip, der mein Gehirn darstellt, ohne Zeitverzögerung, wo es sich befindet. Die Perseus ist vollgestopft mit Sensoren. Es gibt nichts, das uns entgeht.

Deswegen wusste ich auch schon bevor ich um die Ecke hetzte, dass ich bald an meinem Ziel war, aber bei dem Anblick, der sich mir bot, hätte ich diese Information überhaupt nicht gebraucht. Vor mir klaffte ein Loch in der Schiffswand. Zwar sage ich ‚klaffte', aber das liegt größtenteils an meiner Perspektive. Für jemanden von euch wäre das Loch wahrscheinlich kaum so groß wie eine geballte Faust.

Das machte es aber fünf- bis sechsmal so groß wie mich, und da finde ich die Beschreibung ‚klaffte' angemessen.

Schätzungsweise einhundertfünfzig andere Lemminge waren bereits damit beschäftigt, das Loch zu stopfen, aber ich machte mich ebenfalls an die Arbeit, so gut ich konnte. Dazu kletterte ich über die metallenen Körper meiner Artgenossen hinweg, sodass ich das äußerste Ende des Lochs erreichen konnte.

Dort aktivierte ich meine ... nennen wir es Drüsen, die wären es nämlich bei dem Tier gewesen, nach dessen Vorbild ich modelliert wurde. Es klingt deutlich technischer, als es ist, oder zumindest fühlt es sich für mich deutlich weniger technisch an, als es ist. Für mein Empfinden versiegelte ich das Loch in der Wand nämlich mit nichts anderem als meiner Spucke. Es ist Hightech-Spucke nach menschlichen Maßstäben, aber weil ich nie etwas anderes gekannt habe, ist es für mich einfach nur Spucke.

Wenn ihr noch einmal das Wort ‚Spucke' lest, kommt ihr wahrscheinlich zu dem Schluss, dass ihr hier mit mir eure Zeit verschwendet. Dabei ist meine Spucke für das vorhandene Problem sehr wichtig, würde ich sie nämlich nicht auf dem Loch anbringen, das wahrscheinlich ein kleiner Gesteinsbrocken in die Außenhülle gerissen hat, würde hier nach und nach die Luft entweichen und –kein Grund, näher ins Detail zu gehen. Die Perseus ist absolut sicher.

Mit vereinten Kräften schafften wir es, das Loch in ihrer Hülle zu stopfen. Es wurde kleiner und kleiner, bis höchstens noch ein oder zwei Lemminge hindurchgepasst hätten. Bei dieser Einschätzung war ich gerade angelangt, als sie auf die Probe gestellt wurde. Einer von denjenigen, die auf der anderen Seite des Lochs arbeiteten, rutschte aus, vermutlich auf dem Bein eines der anderen Lemminge.

Wir waren alle so konstruiert, dass wir dem Wind, den ein Druckverlust am Schiff verursacht, standhalten können. Das gilt allerdings nur, solange wir mindestens sechs unserer acht Beinchen auf dem Boden verankert haben.

Für den erwähnten Lemming galt das nicht mehr. Er wurde von der Luftströmung erfasst und nach draußen gezogen, in die riesigen, unerschlossenen Weiten des Alls. Wir alle hielten einen Augenblick mit der Arbeit inne. Es war so plötzlich passiert, dass mir buchstäblich noch die Spucke im Mund zusammenlief, als ich gezwungen war, eine Pause zu machen.

Als wir uns allerdings sicher waren, dass der betroffene Lemming keinen Weg mehr zurück finden würde – etwa zwei Sekunden später – machten wir uns wieder an die Arbeit und kurze Zeit später war das Loch verschlossen.

Nach und nach erlosch das rote Leuchten, das uns auf unsere Aufgabe aufmerksam gemacht hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir das nächste Mal die Farbe wechseln würden. Kleinere Löcher treten häufig in der Hülle der Perseus auf, wir sind schließlich mitten im Weltall unterwegs und hier fliegt einiges herum, das schon sehr lange unterwegs ist und dadurch sehr hohe Geschwindigkeiten erreicht hat.

Ein Gesteinsstückchen von der Größe eures Daumennagels kann beim Aufprall einen Krater hinterlassen, der einen Durchmesser hat, länger als euer ganzer Arm. Aber dafür sind wir da.

Kaum hatte ich mich von dem frisch geflickten Loch abgewandt, wechselte ich die Farbe. Ich glühte jetzt weiß und wurde folglich in der Reinigung gebraucht.

Eilig machte ich mich auf den Weg. Einen Lüftungsschacht nach oben. Links, rechts, links, links, dann lange gerade aus.

Ich hatte noch zwei Abzweigungen vor mir, als etwas meine Prozesse aus dem Konzept brachte: Der Weg vor mir war versperrt. Es war ein Wartungsroboter, einer von den großen, die die Luftschächte sauber halten. Dafür könnten zwar auch wir Lemminge eingesetzt werden, aber es ist effizienter, das von einem großen genormten Ding erledigen zu lassen, anstatt dass mehrere Hundert von uns übereinander stolpern.

Das Problem ist, wenn ich sage ‚genormt', dann meine ich auch genormt. Zwischen den Bürsten des Roboters und mir war bei weitem nicht genügend Platz, als dass ich mich hätte durchquetschen können.

Mit quietschenden Beinen machte ich kehrt und flitzte in die andere Richtung davon. Allerdings hatte ich mich dabei ein bisschen mit dem Winkel verschätzt. Auf dem leicht abschüssigen Metall des Lüftungsschachts rutschte ich aus und rauschte mit einem deutlich vernehmbaren ‚Huuuiiiii'-Geräusch nach unten.

Hätten mir zwei bis drei Millisekunden mehr Zeit zur Verfügung gestanden, hätte ich mich wieder gefangen und ich wäre dem Staubsauger-Roboter entkommen. Aber dieses Zeit hatte ich nicht, denn bevor es mir gelang, meine Rutschpartie aufzuhalten, fiel ich durch die Spalten eines Lüftungsgitters.

Hätte ich so etwas wie eine Stimme gehabt, hätte ich wahrscheinlich überrascht gejapst, aber ich hatte keine, also blieb mir nichts übrig, als meine dünnen, weiß glühenden Beinchen nach dem Lüftungsgitter auszustrecken, um mich vielleicht doch noch auffangen zu können. Ich hatte keinen Erfolg damit.

Immerhin zersprang ich beim Aufprall nicht in meine Einzelteile. Stattdessen landete ich auf einer Oberfläche, die unter mir nachgab – und es mir sehr schwer machte, mich wieder in meine richtige Position zu bringen. Um nicht zu sagen, unmöglich.

Meine dünnen Beinchen bewegten sich über mir und suchten nach Halt, konnten aber keinen finden. Wenn so etwas in den Schächten passiert, sind normalerweise immer andere Lemminge da, die helfen können, aber hier nicht.

Ich konnte nur auf dem Rücken liegen und zappeln.

Jedenfalls, bis sich ein Gesicht in mein Blickfeld schob. „Na, was ist denn dir passiert?"







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