17 | Viel zu viel Blut

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Die nächsten Minuten zogen wie ein Film an mir vorbei, der vorgespult wird. Sanis liefen mit der Trage vorbei, dann kamen sie schon wieder runter. Leonardo lag auf der Trage und an seinem Arm befand sich ein knallweißer Verband, der so sauber ist, dass er nicht in dieses Viertel passte. Zigarettenrauch, noch ein Zug. Fede und die Mutter der beiden stürmten hinterher. Beruhigend redet Fede auf sie ein, während sie irgendwas vor sich her murmelte. Die Sanis trugen Leonardo in den Wagen, die Mutter wackelte auf ihren dicken Beinen hinterher. Türen wurden zugeschlagen.

Fede blieb verloren stehen und sah dem Rettungswagen hinterher, wie zu dem Blaulicht nun auch noch der laute Sirenenklang dazu kam. Schnell verschwanden sie die Straße runter und waren außer Sichtweite.

In diesem Moment wurde auf Play gedrückt und die Welt lief wieder in normaler Geschwindigkeit. »Was is jetzt mit ihm?«, fragte ich Fede und zog ihn ohne zu zögern in meine Arme. Drückte ihn noch fester, als ich spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. Fuck, ey. Ich hatte ihn noch nie so erlebt.

Ich bemerkte, wie er seine Arme enger um mich schlang. Richtig zudrückte. Wie er sich an mir festhielt, wie er meinen Halt zu gebrauchen schien. Und fuck, das fühlte sich gut an. Fede brauchte mich. Ich konnte Fede das geben, das ihm gerade fehlte. Das war gut, verdammt gut. Dann würde der vielleicht endlich mal checken, was ich ihm alles bot. Und vielleicht mal drüber nachdenken, dass das mit uns ja doch mehr sein könnte.

Da war ich kurz richtig froh drüber, dass Leonardo seine komische Emo-Nummer durchgezogen hatte. Und seien wir mal ehrlich, auch wenn ich mir vorher Sorgen gemacht hatte. Der war doch ein viel zu großer Feigling, um das wirklich zu vollbringen.

»Ich weiß es nich«, brachte Fede erstickt hervor. »Er hat so geblutet. Ich glaub, ich hab noch nie so viel Blut gesehen.«

»Scheiße, ey.« Ich fuhr mit einer Hand durch seine Haare, die im Nacken kurzrasiert waren.

Kurz tauchten vor meinem inneren Auge die vielen Situationen auf aus den letzten Jahren, in denen ich Blut gesehen hatte, viel Blut gesehen hatte. Schlägereien, Messerstechereien. So viele Menschen, von denen ich nicht wusste, ob sie's geschafft haben. Was mir an sich auch egal war, aber ja. Die Bilder. Zuletzt der Typ, den Tarek erschossen hatte.

»Und sonst so? Also war er bei Bewusstsein?«

»Glaub schon. Die mussten auf jeden Fall nicht wiederbeleben. Keine Ahnung.« Seine Stimme klang wie mechanisch, als trüge er auswendig gelernte Worte vor, die nichts mit seinem Leben zu tun hatten.

»Und wo steckt eigentlich dein Vater? Und deine Schwestern?«

»Frühschicht. Und Alessia und Gloria pennen heute bei Lorena. Das is 'ne Freundin meiner Mutter, die zwei Töchter in deren Alter hat. Die sind oft bei denen. Ich will Lorena gleich schreiben, dass die sich morgen auch noch länger um die beiden kümmert. Die sollen das erst mitkriegen, wenn Leonardo einigermaßen stabil ist. Die sind zu jung«, erklärte er, noch immer in dieser seltsamen Roboterstimme.

»Und dein Vater? Kommt der?«

»Ich ruf ihn gleich an. Ich hoffe, der kann von Arbeit weg. Weiße, sein Chef ist ein richtiges Arschloch, der kriegt das noch hin, ihn nicht gehen zu lassen.«

»Deswegen kann ich Selbstständigkeit nur so empfehlen«, versuchte ich mich an einem Joke.

»Ha ha«, machte Fede. Er seufzte und ließ seinen Kopf gegen meinen sinken. »Kommst du mit? Ins Krankenhaus?«

»Klar, Fede. Ey ... ich lass dich nich allein. Das weiße, oder?« Mit meinen Fingerkuppen strich ich über seinen Rücken. Es fühlte sich gut an, das zu sagen. Endlich hatten wir mal einen Moment, in dem er nicht derjenige war, der Macht über mich ausüben konnte. Endlich war ich nicht mehr der einzige, der bei ihm angekrochen kam, weils ihm scheiße ging, und er sich gerade mit Alk und Drogen den letzten Gedanken aus dem Hirn gehämmert hatte.

Die Verlierer - Herz aus BetonWhere stories live. Discover now