Kapitel 4

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Am nächsten Morgen ging ich wieder mit Lukas und David zur Schule. Wir redeten über belanglose Dinge, während ich die ganze Zeit über den rätselhaften Jungen nachdachte. Ich hatte zu seinem Fenster hinaufgesehen, als wir an seinem Haus vorbeigekommen waren. Ich habe aber nichts von ihm entdeckt. Außerdem dachte ich an Vincent, welcher mich gestern Abend noch angeschrieben hatte. Ich habe durch Zufall erfahren, dass er auf dieselbe Schule ging wie ich und nun wusste ich nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Ich konnte überhaupt nicht einschätzen, in welcher Beziehung wir zueinander standen. Außerdem hatte ich mich gestern Abend noch ziemlich stark mit Miriam gestritten, welche sich meine Lieblingskette ohne zu fragen ausgeliehen und nun verloren hatte. Ich hatte die Kette zum Abschied von Kira bekommen. Es war eine sehr schlichte, aber wunderschöne Herzkette. Sie bedeutete mir unglaublich viel und ich hatte Miriam wirklich sehr doll zusammengeschrien. Ich konnte es noch nie leiden, wenn sie einfach meine Sachen nahm und erst Recht nicht, wenn sie sie verlor. Lilly, welche schon geschlafen hatte, war von unserem Gebrüll wach geworden und hatte angefangen zu heulen. Nina und unsere Mutter hatten versucht alles einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen, was aber nicht wirklich geklappt hatte. Geendet hatte das Ganze erst, nachdem Lukas und Sebastian Streitschlichter gespielt hatten. Sie kannten uns eben besser als unsere Mutter.

Wenn diese nicht gerade in ihrer Ganztagsschule arbeitete, Zuhause irgendwas korrigierte oder den Unterricht vorbereitete, dann fand man sie meistens in unserem riesigen Garten, welcher von ihr immer gut gepflegt wurde. Mit mir und meinen Geschwistern machte sie eher wenig, genau wie mein Vater. Dieser war aber eh so gut wie nie Zuhause. Mich störte die Abwesenheit meiner Eltern nicht, ich kannte es ja nicht anders. Außerdem kümmerte Nina sich ja um uns und mit sieben Geschwistern war es sowieso nie langweilig.

Ich hatte heute Morgen nicht mit Miriam gesprochen und sie vollkommen ignoriert, obwohl sie mehrere Male auf mich zugegangen war. In der Sache waren wir beide sehr verschieden. Ich war schrecklich nachtragend, während Miriam Streit hasste und sich immer so schnell wie möglich wieder vertrug.

In meinen Gedanken versunken ging ich neben meinen Brüdern her. Sie sahen mich ab und zu von der Seite an, unterhielten sich aber ohne mich mit einzubeziehen. An der Schule angekommen, machte ich mich schnell auf den Weg zum Klassenzimmer. Josie, Carna und Sofie waren schon da, Carna war ausnahmsweise mal nicht zu spät. Wortlos setzte ich mich auf meinen Platz. Die drei unterbrachen ihr Gespräch und sahen zu mir rüber. „Dir auch einen guten Morgen" sagte Josie und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?" fragte nun auch Sofie. Ich seufzte und erzählte ihnen, was gestern alles passiert war. Die Begegnung mit dem geheimnisvollen Jungen ließ ich weg. „Und jetzt habe ich einfach keine Ahnung, was ich machen soll" endete ich schließlich seufzend. Meine drei Freundinnen sahen mich nachdenklich an.

Josie öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als wir eine zickige und schadenfrohe Stimme vernahmen. „Oh je, muss sich unsere arme, kleine Amy bei den erstbesten oder sollen wir sagen erstschlechtesten Weibern ausheulen?" Ich drehte mich um und sah in ein hübsches, aber hochnäsig verzogenes Gesicht, das von einer blonden Haarpracht umgeben war. „Aurelia verpiss dich, deine hässliche Fresse und dein behindertes Mundwerk" zischte Josie wütend, während Aurelia eingebildet ihre Haare nach hinten warf und gehässig grinsend davon stolzierte. „War die gestern auch schon da?" fragte ich erstaunt, weil sie mir nicht aufgefallen war. Sofie nickte und rollte mit den Augen. „Sie ist die schlimmste der Oberzicken" sagte sie und seufzte genervt. „Ohne sie und ihr Gefolge wäre es so viel einfacher." „Ich habe sie gestern gar nicht bemerkt, erzähl mal ein bisschen was über sie" bat ich. Nun holte Carna Luft und fing an zu erzählen.

„Aurelia hat stinkreiche Eltern und versucht das mit aller Macht jedem auf die Nase zu binden. Sie hat keine Geschwister und bekommt deswegen jede Menge Aufmerksamkeit. In der Grundschule haben Josie, Sofie und ich uns ziemlich mit ihr in die Haare bekommen. Seit dem hasst sie uns und jeden, der nett zu uns ist. Ihr Gefolge besteht aus Lina, Donna und Melanie. Die drei finden alles was Aurelia macht super und sagen immer das, was sie hören will. Außerdem hat sie unter den Jungs einen Haufen Bewunderer. Allerdings versucht sie krampfhaft Tims Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Tim ist einer aus der elften, hat aber bisher nie Interesse an ihr gezeigt. Das versucht sie mit allen Mitteln zu ändern. Ich hoffe allerdings, dass Tim sie weiterhin abblitzen lässt, er ist nämlich total süß." Sie grinste vielsagend. „Du müsstest ihn eigentlich schon gesehen haben, er wohnt in deiner Nähe."

Während ihrer Erzählung war mir ein Schauer über den Rücken gelaufen und ich musste an den geheimnisvollen Jungen denken. „Wie sieht Tim aus?" fragte ich leise und biss mir gespannt auf die Lippe. „Tim ist recht groß, schlank, aber kräftig gebaut und er hat etwas längere dunkelblonde Locken, die er immer so verwuschelt trägt. Er sieht immer so aus, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen. Ich liebe solche Haare bei Jungs" sagte Carna verträumt. „Und seine Augen erst. Dieses Braun strahlt so viel Wärme und Gutmütigkeit aus. Er ist schon ziemlich lange Solo, was wahrscheinlich an seiner stillen und zurückhaltenden Art liegt. Er redet nicht viel und hält sich meistens im Hintergrund auf." Sie seufzte. „Leider hat er mich noch nicht nach einem Date gefragt und wird es wahrscheinlich auch nie tun. Ich möchte ihn aber auch nicht fragen. Ich trau mich nicht."

Ich saß steif auf meinem Stuhl. Die Beschreibung von Carna traf zu 100% auf den geheimnisvollen Jungen zu, den ich gestern mehrmals gesehen hatte. Dieses Gefühl, welches ich bei seinem Anblick immer verspürte, durfte ich nicht zulassen oder ihn irgendwie anders kennenlernen. Denn wenn ich mit ihm was anfangen würde, hätte ich nicht nur Aurelias Hass auf meiner Seite, sondern würde auch Carna das Herz brechen. Ich ließ die Schultern hängen. Wieso musste ausgerechnet mir so etwas passieren? Zum Glück kam gerade Herr Bauer rein und unterbrach unser Gespräch. Vom Unterricht bekam ich nichts mit, sondern dachte nur an Tim, den geheimnisvollen Jungen und an die Zwickmühle, in der ich mich nun befand.

In der Pause ging ich mit Sofie, Carna und Josie auf den Schulhof. Von der Tür aus sah ich Tim in einer entlegenen Ecke an einem Baum gelehnt stehen. Er sah mich wieder mit diesem brennenden Blick an und diesmal erwiderte ich diesen mit einem Lächeln. Er schien verwirrt zu sein, lächelte dann aber auch leicht. Von der Seite kam Aurelia mit ihrem Gefolge zu ihm und fing an ihn zu umgarnen. Er schlug ihre Hände ärgerlich weg und stapfte davon. Ich sah ihm nachdenklich hinterher und setzte mich dann zu den anderen drei auf eine Bank.

Meine Mädels sahen mich forschend an. „Was war das denn?" fragte Sofie bohrend. „Kennst du Tim Walter etwa schon und du hast uns nichts davon erzählt?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe ihn bisher nur auf der Straße gesehen und noch nie mit ihm gesprochen. Ich erzählte ihnen von den komischen Begegnungen, seinem eigenartigen Verhalten und meinen, nicht richtig einzuordnenden Gefühlen. Carna sah ein wenig verletzt aus, versuchte es aber zu verstecken. „Hm das ist wirklich komisch" meinte Josie nachdenklich und legte den Kopf schief. „Vielleicht siehst du ihn ja heute Nachmittag wieder und kannst ihn dann mal ansprechen." „Mal sehen" sagte ich unentschlossen und sah zu Carna. „Wäre das überhaupt für dich ok?" Sie nickte und lächelte. „Ja wäre es. Ich bin zwar trotzdem etwas enttäuscht, dass es bei uns nie was wird, aber ich freue mich dann, wenn du glücklich bist." Ich zog eine Augenbraue hoch und grinste. „Wer sagt denn, dass jemals was zwischen uns beiden passieren wird?" „Ich" meinte Carna überzeugt und brachte uns alle damit zum Lachen.

Plötzlich tippte mir jemand von hinten auf die Schulter. Als ich mich umdrehte sah ich, dass Vincent vor mir stand. „Hi" begrüßte ich ihn. „Na" erwiderte er und lächelte. „Ich habe meine Schwester wegen der Tanzschule ein bisschen ausgefragt. Die bieten da alles an, Hip Hop, Standard und noch ganz viele andere Sachen. Ich habe dir mal die Internetseite und die Adresse aufgeschrieben" sagte er freundlich und reichte mir einen Zettel. Ich strahlte ihn an. „Danke, da werde ich mich heute gleich mal umsehen." „Kein Ding" erwiderte er zwinkernd. „Ich gehe dann mal wieder, man sieht sich bestimmt" er lächelte und drehte sich zum Gehen um. „Ja bestimmt. Und noch mal danke" rief ich ihm hinterher. Ich freute mich wie ein kleines Kind darauf, endlich wieder tanzen gehen zu können.

„Kennt ihr die Tanzschule?" fragte ich Sofie, Carna und Josie, während ich ihnen die Karte zeigte. Sofie nickte. „Da habe ich auch mal getanzt, musste aber wegen meinen Knieproblemen aufhören. Das ist richtig schön da und alle sind super nett. Von dir Zuhause ist es auch gar nicht weit entfernt." Ich strahlte sie an. „Das klingt doch super. Hättest du Lust heute Nachmittag mit mir hinzugehen oder macht dich das zu traurig?" Sofie lächelte. „Natürlich komme ich mit, dann sehe ich die alle mal wieder. Ich habe mich mit dem Gedanken abgefunden, dass meine Knie im Eimer sind und ich nie wieder bestimmte Sportarten ausführen können werde." Ich lächelte sie an. „Danke Sofie, das bedeutet mir total viel." „Ach" sagte sie und winkte ab. „Das ist doch kein Ding, ich mach das ja gerne. Für welche Tanzkurse möchtest du eigentlich nachfragen?" „Streetdance und Standard. Weißt du ob die Streetdancegruppe auch auf Turnieren tanzt?" Sofie nickte. „Ja das tun sie. Wenn ich mich recht erinnere sogar einigermaßen erfolgreich." Ich strahlte von einem Ohr zum anderen. So wie sich das anhörte war die Tanzschule echt super und ich freute mich schon tierisch auf heute Nachmittag. Nur noch eine Stunde Mathe trennte mich vom Schulschluss und ich war fest entschlossen, diese so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.

Nothing is impossibleWhere stories live. Discover now