Kapitel 13

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Gähnend erhob ich mich aus dem Bett und sah zum Fenster hinaus. Der Schnee von gestern war fast wieder weggetaut und hinterließ eine braune und ziemlich schlammige Landschaft. So wünschte sich doch jeder den letzten Tag der Weihnachtsferien.

Ich seufzte und blickte zurück zum Bett. Bei Tims friedlichem Anblick lächelte ich verträumt. Wenn man ihn so gemütlich schlafen sah konnte man glatt seine ganzen Sorgen vergessen. Bei einem Seitenblick auf die Krücken neben dem Bett waren sie aber wieder allgegenwärtig.

Die Weihnachtsferien hatten dabei so schön angefangen. Noch bevor Tims nächste Chemo begonnen hatte, war er mit mir und meiner Familie auf einen Tagesausflug an die Nordsee gefahren. Trotz des eisigen Windes war es ein wundervoller Tag gewesen. Ich hatte zusammengekuschelt mit Tim in einem Strandkorb gesessen und meinen Vater dabei beobachtet, wie er mit Robin, Lukas und meinen kleinen Geschwistern im Sand fangen gespielt hatte. Meine Mutter und meine verbliebenen Brüder hatten ebenfalls gemütlich in Strandkörben gesessen und dem Spektakel zugesehen. Später hatten wir noch mehr oder weniger gemütlich gepicknickt, wobei allerdings eine unserer Picknickdecken im wahrsten Sinne des Wortes baden gegangen war. Als Robin dann auch noch beschlossen hatte die Decke zu retten und uns danach erstmal schön duschte, war der Ausflug vorbei gewesen. Auch mit einem stinkenden Hund im Kofferraum und nach Salzwasser riechenden Klamotten am Körper war ich so glücklich wie schon lange nicht mehr gewesen.

Als Tim dann ins Krankenhaus zurückmusste, war es fast wie in den Herbstferien. Mit dem Unterschied, dass ich Tim nicht mehr den ganzen Tag besuchte, da ich die freie Zeit meines Vaters ausnutzte und mehr mit meiner Familie unternahm.

Nach Weihnachten gab es bei Tim aber erneut Komplikationen. Der Tumor war in Richtung seines Herzen größer geworden und engte es nun etwas ein. Dadurch vielen ihm alle Dinge die er tat viel schwieriger und strengten ihn stark an. Treppen kam er nur noch mit Hilfe von Krücken und größter Anstrengung hoch und auf ebenen Flächen bewegte er sich nur noch mit dem Rollstuhl vorwärts. Auch essen viel ihm deutlich schwerer und es kam nicht selten vor, dass ihn dabei die Kraft verlief und er zusammensackte. Zusätzlich hatte ihn die Chemo geschwächt, wodurch er sehr viel Gewicht verloren hatte. Kurz nach Silvester hatten sie die Chemo schließlich abgebrochen. Nun lag er hier bei sich Zuhause und kam kaum noch ohne Hilfe irgendwo hin. Ich war in dieser Zeit auch immer öfter über Nacht hier, da ich mir unfassbare Sorgen um Tim machte und Zuhause kein Auge zubekam. Wie man in seinem derzeitigen Zustand den Krebs weiterbekämpfen konnte, ohne ihn körperlich noch weiter zu schwächen, wussten die Ärzte auch nicht. Es waren also alle so ratlos wie wir.

Ich sah wie Tim den Kopf hob und mich verschlafen anlächelte. „Guten Morgen" begrüßte er mich mit kratzender Stimme. „Morgen" flüsterte ich und gab ihm einen Kuss. „Wollen wir meinen letzten Tag in Freiheit bei einem Spaziergang genießen?" Tim nickte lächelnd. Ich reichte ihm die Krücken und half ihm dann aufzustehen. Im Badezimmer machten wir uns gemeinsam fertig, ich mehr und Tim weniger schnell. Schließlich waren wir beide aber so weit und machten uns nach einem gemeinsamen Frühstück mit seinen Eltern auf den Weg. Zum Glück schien die Sonne, da sah die Natur nicht ganz so trostlos aus. Ich schob Tim im Rollstuhl vor mich her und genoss die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Tim hatte die Augen geschlossen und schien die Sonne ebenfalls zu genießen, da er ein friedliches Lächeln auf den Lippen hatte. Im Park blieb ich bei einer Bank stehen und setzte mich hin. Zum Glück hatte ich einen Mantel an, der lang genug war, dass meine Hose dabei nicht nass wurde. Tim nahm meine Hand in seine und lächelte, als ich meinen Kopf an seine Schulter lehnte. Die Szene erinnerte mich ein wenig an den Tag im Krankenhauspark. Der Unterschied war aber hierbei, dass wir damals nicht zusammen waren und heute schon. Ich blickte nach vorne auf den kleinen Parksee, wo sich ein paar Enten und Brotkrümel stritten. Ich genoss das stille Rauschen der Blätter und das leise Plätschern des Wassers. Instinktiv wusste ich, dass es Tim genauso ging. Wenn wir zusammen waren saßen wir ganz oft da ohne miteinander zu sprechen. Wir brauchten keine Wörter, um uns zu verstehen und genossen einfach die Anwesenheit des anderen. So auch heute. Bis Tim die Stille mit einem Flüstern unterbrach.

„Amy ich will nicht mehr." Ich erhob mich aus meiner Position und sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. „Wie meinst du das?" Er seufzte und vermied es in meine Richtung zu gucken. Stattdessen blickte er auf seine Schuhe. „Ich komme damit nicht klar, dass ich euch so zur Last falle. Dir, Mama, Papa. Ich kann nichts mehr alleine und brauche bei allem eure Hilfe. Ich will das nicht mehr. Früher war ich immer selbstständig und konnte alles alleine machen und jetzt? Das ist doch kein Leben. Ich komme mir vor wie ein schwerbehinderter Krüppel. Nicht mal die Ärzte wissen wie es mit mir weitergehen soll. Wenn der Tumor weiter so wächst, bin ich spätestens im Sommer tot. Was bringt es denn das unvermeidbare hinauszuzögern und euch noch ein halbes Jahr das Leben schwer zu machen?" Er sah mir nun direkt ins Gesicht. Ich war schockiert von seinen Worten und spürte den Kloß in meinem Hals. „Tim so darfst du nicht denken" sagte ich mit zitternder und belegter Stimme. Er zog die Augenbrauen hoch. „Wieso nicht? Es ist doch die Wahrheit." Ich schüttelte den Kopf. „Du wirst nicht sterben. Jeder hat mal einen Tiefpunkt an dem er sich nicht gut fühlt. Deiner ist halt etwas tiefer als bei anderen Menschen, dafür werden deine Hochs dann aber auch höher werden als bei anderen. Das verspreche ich dir. Außerdem fällst du weder deinen Eltern noch mir zur Last. Wir machen das alles gerne für dich. Weil wir dich lieben." Nun liefen mir die Tränen über das Gesicht. Auf Tims Gesicht schlich sich ein Hauch von einem schlechten Gewissen. Er hob die Hand und strich mir sanft die Tränen weg. „Nicht weinen Amy. Das wollte ich nicht." Er gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Ich schluchzte leise.

„Kannst du dir eigentlich im Entferntesten vorstellen, was ich für eine Angst um dich habe? Jedes Mal wenn ich Zuhause bin und unser Telefon klingelt habe ich Angst, dass das deine Eltern sind, die mir sagen, dass es dir schlechter geht. Jeden verschissenen Tag an dem ich abends meine Augen schließe habe ich Angst, dass du am nächsten Tag nicht mehr da bist. Jedes Mal wenn du beim Essen zusammenklappst habe ich Angst, dass es nun endgültig war und jedes Mal, wenn ich dir einen Kuss gebe oder du ein Wort sprichst, habe ich eine verdammte Angst, dass es das letzte Mal war. Jeder weitere Tag den ich mit dir verbringen darf ist ein Geschenk. Bitte rede nicht so leichtfertig über deinen Tod. Denn das ist der Tag, vor dem ich am meisten Angst habe."

Ich sah Tims nachdenklichen und schuldbewussten Blick. Ich hob mit meinem Zeigefinger seinen Kopf an und sah ihm direkt in die Augen. „Solltest du wirklich nur noch bis zum Sommer leben, dann lass uns wenigstens jeden Tag, der uns zusammen bleibt, genießen ja? Lass uns eine Zeit erleben, an die man sich mit Freude zurückerinnern wird." Tim nickte und über seine Lippen huschte ein Lächeln, welches ich erwiderte. „Und Tim, du wirst nicht sterben, da bin ich mir sicher. Denk dran: Nothing is impossible." „Nothing is impossible" flüsterte er leise.

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Ein etwas kürzeres und kitschiges Kapitel, aber doch eins, das für den Verlauf der Story wichtig ist. Tim ist, wie man hier bemerkt, also auch nicht immer nur gut gelaunt und kommt mit seiner Krankheit super klar. Findet ihr seine Gedanken nachvollziehbar? :)


Nothing is impossibleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt