60. Absentminded

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Chapter 60

Willenlos hafteten meine verheulten und schmerzenden Augen am glanzvollen Boden, der unsere Gestalten verschwommen wiedergab. Ich traute mich gar nicht hochzuschauen, denn meine Schuldgefühle waren schon groß genug. Dass ich ihm in die Augen sehen konnte, ohne ihm die Wahrheit zu sagen, machte mich zu einem schlechten Menschen. Wer hätte gedacht, dass die Angst über die Wahrheit siegte. In diesem Punkt war ich vollkommen selbstsüchtig. Seine Reaktion, die ich kein bisschen abschätzen konnte, über meine kommende Offenbarung war meine größte Angst. Aus diesem Grund zwang mein Körper mich zum Schweigen. Tief in mir hatte ich das Gefühl, dass er sich von mir abwenden und mich vergessen würde. Eigentlich war das aber ein dummer Gedanke von mir, da er mich so sehr liebte wie ich ihn, oder? Klar würde es ihn mehr als alles andere verletzen, aber wir könnten zusammen eine Lösung suchen. Eine Lösung für eine gemeinsame Zukunft. Trotz dieser eher vorstellbaren Handlung spalteten sich meine Gedanken. Irgendetwas in mir wollte diesen Gedanken, dass alles mit der Wahrheit enden würde, nicht loslassen. Ich sollte nicht daran glauben, sondern nur positiv denken und handeln, doch das konnte ich einfach nicht.

Es war unvorstellbar zu glauben, dass er auf meine Worte "Ich muss Korea in ein paar Wochen verlassen!" mit "Wir finden dafür schon eine Lösung. Ich will nicht, dass du mich verlässt." antworten würde. Das klang nach einem Drama, nicht nach der Realität. Jeongguk war aber nicht die Art von Mensch, die mich von sich stoßen würde, dachte ich. Dass er sich so verhalten würde, passte nicht zu seinem Charakter, jedoch konnte alles passieren. Über meine widersprüchlichen Gedanken hätte jeder Außenstehender lachen können. Erst wollte ich nur sein Bestes. Er sollte nicht meinetwegen seine Karriere an den Nagel hängen, weswegen ich es akzeptierte und es ihm sogar wünschte, dass er erfolgreich und mit einer anderen Frau glücklich werde. Es war sogar okay für mich, dass er mich vergaß, um ein glückliches Leben zu führen. Seit dem Gespräch von vorhin, oder besser gesagt seit dem Tag, an dem er aus dem Dorm geflohen war, konnte ich mir so eine Zukunft nicht vorstellen. Ich wollte nichts davon hören, dass er mich vergessen, ohne mich glücklich werden und eine andere Frau lieben sollte. Das war das letzte, was ich mir und ihm wünschte. War es egoistisch von mir, dass ich mir ein glückliches Leben wünschte? Und zwar mit Jeongguk? War es zu viel verlangt?

Abgesehen vom Ruckeln und den Bewegungen des Fahrstuhls, waren Jeongguk und ich von Stille umgeben. Dafür war es in meinem Kopf sehr laut. Bei der Frage, ob ich überhaupt das Recht hatte, Jeongguk für mich zu beanspruchen, wollte ich ihn zum ersten Mal anschauen, seit wir zusammen die Dachterasse verlassen hatten. Schneller atmend, erhob ich meinen Kopf ganz langsam und richtete meine Augen auf ihn. Er hatte sich gegenüber von mir an die Wand gelehnt und seinen Arm stützte er an der Stange, die an der Wand befestigt war. Sein nichts sagender Blick galt der Tür. Er schien selten zu blinzeln, was aussagte, dass er genauso sehr wie ich in Gedanken war. Unbewusst fing ich an, sein Gesicht haargenau zu mustern. Meine Augen fuhren gemächlich von seiner definierten Jaw Line bis hoch zu den Umrissen seines Gesichtes von der Seite. Konnte er mich von sich abstoßen und einfach so vergessen? Als nächstes waren seine Haare dran. Wie gern würde ich doch meine Finger durch seine Haare fahren lassen. Weil sie so gesund waren, waren sie mehr als weich, das wusste ich. Konnte er ohne mich glücklich sein und leben? Zum Schluss landete ich bei seinen Augen. Diese tief dunklen Rehaugen, die ich so schnell nicht aus meinem Gedächtnis verbannen könnte. Ohne es anfangs zu bemerken, schielte er von der Seite zu mir rüber. Ihm war aufgefallen, dass ich ihn anstarrte.

Mir war gar nicht bewusst, dass ich seine Augen nur besser sehen konnte, weil er zu mir rüberschaute. Sein Gesicht hatte er komplett zu mir gedreht und ich sah beiläufig, dass sein Mund sich bewegte. Die Worte, die von ihm kamen, konnte ich aber nicht hören. Meine Ohren ließen nichts von außen herein, damit die Diskussionen in meinem Kopf nicht gestört wurden. In dem Augenblick, in dem sich unsere Augen trafen und einander nicht mehr losließen, hatte ich mich gefragt, ob er mit einer anderen Frau viel glücklicher wäre als mit mir. Das war der Moment, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war so, als hätte er gewusst, worüber ich nachgedacht hatte. War es eine Antwort auf die Frage, die ich mir zu diesem Zeitpunkt gestellt hatte? Wieso musste er sich ausgerechnet bei dieser Frage zu mir drehen? Was sollte das bedeuten? Urplötzlich schoßen mir die Tränen ins Auge. In einem bestimmten Sinne war es wie ein Schock für mich, dass wir uns bei diesem Gedanken in die Augen sahen. Wegen des unerwarteten Überschusses an Tränen war ich nicht mehr in der Lage dazu, meine Augen offen zu halten. Reflexartig vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen und fing fürchterlich zu schluchzen an. Seit wann war ich zu solch einer Heulsuse mutiert?

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