6. - Freude und Schmerz.

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Mir blieb für einen Moment die Luft weg. Vor mir erstreckte sich ein Meer aus Lichtern. Es war die Skyline unserer kleinen Stadt, die von hier aus, wie eine Millionenstadt aussah. Man erkannte die fahrenden Autos auf dem Highway und die Lichter in den Häusern.

Ich konnte den Blick nicht abwenden. Dieser Anblick löste in mir ein geborgenes und zugleich befreiendes Gefühl aus. Gefühle, die ich schon lange nicht mehr so stark gefühlt hatte. Sie schienen mir schon fast fremd geworden zu sein. "Wie hast du denn diesen Platz gefunden?", fragte ich Liam ohne von dieser Aussicht weg zu sehen. "Mein Opa ist früher mit mir und meinen Schwestern oft hier her gekommen. Doch nun komme nur noch ich hier her. Hier kann ich entspannen und alles um mich herum abschalten.". Seine Stimme war leise. Ich schaute ihn an. Auch er konnte den Blick von dem Geschehen vor uns nicht abwenden. Irgendwie faszinierte er mich. Sein Gesicht sah so lieb aus. Seine Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen. Da war er wieder. Der Junge, der für mich da war, als es sonst keiner war und nicht dieser Junge mit der dunklen Seite, der mir in der Schule aus dem Weg ging und über mich gelacht hatte.

Sein Blick wandte sich zu mir. Etwas ertappt schaute ich weg und versuchte mich wieder auf dem Ausblick zu konzentrieren,  in der Hoffnung, dass er nicht mitbekommen hat, dass ich ihn angestarrt hatte.

"Es ist wunderschön hier.", sagte ich und lächelte. "Es ist schön, wenn du lächelst!", sagte Liam. Mein Kopf schnellte zu ihm herüber. Er sah mich an. Liam lächelte mich mit diesem Lächeln an, dem ich für einen kurzen Moment verfallen war. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Die Situation war mir fremd. Noch nie hatte mir jemand gesagt, dass mein Lächeln schön war. "D-Danke.", stotterte ich und lächelte ihn schüchtern an.

"Wollen wir uns setzen?", fragte Liam und zeigte auf eine Bank, die ungefähr drei Meter von uns entfernt stand. Ich nickte und setzte mich. Sie sah schon nicht mehr ganz stabil aus, aber das war mir gerade egal. Dann fiel mir wieder ein, warum ich eigentlich hier war. "Liam, wolltest du nicht mit mir reden?". "Ja also...ich...", fing er an.

"Ich wollte dir nochmal sagen, dass es mir total leid tut, dass ich im Unterricht gelacht habe. Ich weiß auch nicht, was plötzlich los war. Ich bin sonst nicht so. Ich halte mich bei den Schikanierungen und dem ganzen Zeug den die Jungs anstellen immer raus. Doch selbst wenn ich etwas sagen würde, würden sie sich nicht ändern. Doch sie sind meine besten Freunde, sie sind wie Brüder für mich! Verstehst du?". Ich nickte. Mir war klar, dass seine Freunde ihm total wichtig sind. Ein Gefühl, dass ich leider nicht nachempfinden konnte. "Ich will nur, dass du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst. Das meine ich ernst! Bitte Demi, glaub mir.", sagte er und sah mich schon fast flehend an. "Ich glaube dir. Wirklich.", ich sah Liam lange an. "Danke, dass du für mich da bist.", fügte ich hinzu. Er sah mir in die Augen. Und ich sah in seine. Ich hätte sie noch Stunden betrachten können.

Sein Gesicht nährte sich meinem. Wollte er mich etwa küssen? Mein Atem stockte. Ich konnte nicht mehr atmen. Kurz bevor seine Lippen meine berühren konnten drehte ich den Kopf weg. Es war richtig so. Immerhin kannte ich ihn so gut wie garnicht und ich wusste noch nicht einmal ob ich ihm wirklich vertrauen konnte. "Was ist?", fragte er mich. "Tut mir leid. Aber ich kann das nicht.", sagte ich und versuchte irgendwie aus dieser peinlichen Lage heraus zu kommen. "Ich versteh' schon. Ist okay.", sagte er. Ich nickte. "Können wir gehen? Es ist schon ziemlich spät.", fragte ich ihn. Er nickte nur und schon machten wir uns auf den Weg zu Liams Wagen.

Schon kurze Zeit später waren wir bei mir zu Hause angekommen. Die gesamte Fahrt über sagte keiner ein Wort. Diese Stille war mir sehr unangenehm. Erst als der Wagen zum Stehen kam, brach er die Stille. "Ist alles gut zwischen uns?". "Ja na klar!", sagte ich. Er fragte, ob er mich noch zur Tür bringen soll, doch ich lehnte ab. Dann verabschiedeten wir uns.

Ich ging ins Haus. Eigentlich sollte es dunkel sein, doch im Wohnzimmer brannte Licht. Oh nein, bitte nicht! "Demi!", hörte ich schon seine raue Stimme rufen. Ich hatte keine Chance, mich ohne seine Aufmerksamkeit zu erhaschen, in mein Zimmer zu gehen. Dann kam er in den Flur gerannt. "Wo warst du verdammt nochmal?!", schrie er mich an. Ich schaute zu Boden. Der starke Geruch von Alkohol stieg mir in die Nase. "Seit wann interessiert dich das?", fragte ich ihn mit wütender Stimme. "Werd nicht frech!!!", wieder schrie er mich an. "Du wirst das Haus nicht mehr verlassen! Hast du mich verstanden?!". "Und was wenn nicht?", schrie nun auch ich. Er konnte mir nicht sagen was ich tun sollte oder nicht. Ihn hat es eh noch nie interessiert. Warum sollte es jetzt anders werden? Das nächste was ich spürte, war etwas hartes, das mein Gesicht traf. Ich fiel zu Boden und schlug mir den Kopf an der alten Holzschrank an, der neben mir im Flur stand. Er hatte mich wirklich geschlagen...seine eigene Tochter. Die ersten Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich stand so schnell wie ich konnte auf und torkelte zur Tür. Mir war total schwindelig und alles in meinem Kopf drehte sich. Ich rannte so schnell ich konnte aus unserem Haus auf die Straße hinaus. Doch wo sollte ich nun hin?

Es gag nur eine Person, die mir helfen kann...

Ich ging zu ihm. Ich stand vor seiner Haustür doch traute mich nicht, die Klingel zu betätigen. Also nahm ich mein Handy und rief ihn an.

"Demi?"
"Ich brauch deine Hilfe."
"Klar was ist los?", fragte Liam besorgt.
Ich war nicht in der Lage zu sprechen.
"Weinst du?"
"...j-ja..."
"Ich komm zu dir. Bist du zu Hause?"
"Nein. Ich bin bei dir...", sagte ich.

Schon ein paar Sekunden später ging die Haustür auf und ein verschlafener Liam stand vor mir. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er mich in den Arm. "Komm rein.", sagte er und führte mich ins Haus. "Was ist passiert?". "Ist jetzt nicht so wichtig...", antwortete ich. Dann sah er mich einmal genauer an. "Hey! Warte!", er sah mein Gesicht an. Es fühlte sich durch den Schlag dick und taub an. "Ist nicht wichtig?! Es sieht so aus als hätte dich jemand grün und blau geschlagen! Wir müssen zum Arzt!", sagte er. "Nein! Bitte nicht!". "Warum?". "Das ist nichts weiter...ich hatte das schon mal...". Ich log. Mein Vater hatte mich nie geschlagen. Klar, er war öfters betrunken und wütend doch so weit war er noch nie gegangen. Liam zögerte. "Na wenn du meinst. Willst du drüber reden?", ich verneinte und schüttelte mit dem Kopf. Daraufhin nahm er meine Hand und wir gingen leise hoch in sein Zimmer, damit seine Eltern nicht aufwachten. "Du kannst heute Nacht hier schlafen.", sagte er und zeigte auf sein Bett. "Ich werde hier auf dem Sofa schlafen.", fügte er hinzu und begann sich seinen Schlafplatz herzurichten. Danach ging er zum Schrank und holte einen Pullover heraus, den er mir hinhielt. "Danke...", sagte ich. Ich sagte ihm, dass ich nochmal kurz ins Bad gehen würde und verschwand aus dem Zimmer. Im Badezimmer warf ich einen Blick in den Spiegel. Unter meinem rechten Auge war eine blau-lila dunkle Färbung zu erkennen. Zum Glück war es nicht ganz so schlimm. Ich berührte die Stelle und zuckte zusammen. Es tat höllisch weh! Es war total heiß und fühlte sich dick an.

Ich zog mich um und ging zurück ins Zimmer. Ich legte mich ins Bett. Liam kam zu mir und setzte sich neben mich. "Sagst du mir, wer dir das angetan hat?", fragte er. Ich blieb still und sagte nichts. Liam verstand wohl, dass ich nicht drüber reden wollte und hackte nicht weiter nach. "Schlaf jetzt, okay?". Ich nickte. Ich kuschelte mich in die Decke und schloss die Augen. Er saß immer noch bei mir. Ich fühlte mich beobachtet und wusste, dass er mich anschaute. Als ich merkte, dass er aufstand riss ich meine Augen wieder auf und nahm schnell seine Hand. "Warte!", sagte ich. Seine braunen Augen trafen auf meine. "Kannst du hier bleiben? Ich will nicht alleine sein.", sagte ich leise. Ich versuchte die Tränen die mir merkwürdigerweise in die Augen stiegen, zu vertuschen doch es klappte nicht. Er nickte nur und lächelte mich leicht an. Er ging auf die andere Seite des Bettes und setzte sich dort hin. Wie auf einen Schlag fühlte ich mich sicher und nicht so einsam. Ich war ihm so unendlich dankbar, dass er da war. Ich schloss wieder meine Augen. Ich war so müde. Meine Augenlider wurden immer schwerer.

"Keine Sorge. Ich bin da.", hörte ich ihn sagen, bevor ich in den Schlaf glitt.

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