☑️ Kapitel 35♔

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~Sie ist einfach gegangen und jetzt ist der Himmel ein Stück blauer.~

Ich zwinge mich, weiter zu gehen und brauche viel Mühe, dass jetzt einfach durchzuziehen und nicht kehrt zu machen. Meine Atmung beginnt unkontrollierter zu werden und ich versuche die Erinnerungsbilder zu verdrängen.
Ich spüre, wie einige Blicke der wartenden Leute in meine Richtung fallen. Doch das ist mir egal, denn das einzige worauf ich mich konzentriere, ist der breite Rücken von Jason, der ein paar Meter vor mir hergeht.
Er merkt mich nicht. Mit Mühe bleibe ich an ihn dran und versuche mich durch seinen Duft zu beruhigen und abzulenken.

Die weißen Wände, die rechts und links neben mir aufragen scheinen auf mich zuzukommen.
Doch ich schenke meiner grässlichen Fantasie und der aufkeimenden Angst keine Beachtung.
Jason biegt plötzlich scharf nach rechts ab.
Vor lauter schreck tue ich es auch- und laufe gegen etwas hartes.

"Au!"
Überrascht keuche ich auf und halte meine flache Hand an meine Stirn. Dieser plötzlicher Schmerz hat mich wieder in die Wirklichkeit katapultiert.
Als sich meine Sicht klärt, sehe ich vor mir eine weiße Tür. Geschlossen.
Anscheinend ist Jason dahinter verschwunden und ich war so dumm, und habe die Türe nicht beachtet, die er hinter sich schloss.

Gerade als ich mich etwas von der Türe entfernen will, halte ich inne, da ich von drinnen Stimmen höre.
Neugierig bleibe ich dicht an der Türe stehen und tue so, als müsste ich gerade dringend an meinem Nagel herum pulen.
"Was ist passiert?", erklingt eine dumpfe Stimme, die ich als Jason's einordnen kann.
Er klingt vollkommen ernst und streng.
Mit meinen guten Wolfsohren kann ich glücklicherweise jede Silbe genau verstehen.

„Meine Güte, es ist doch alles gut! Ich habe nur vergessen meine Tabletten zu nehmen!", antwortet daraufhin eine weibliche Stimme gereizt. Sie ist vor Wut so verzerrt, dass ich sie im ersten Moment nicht identifizieren kann.

"Sie sollten aufpassen, Miss. Mit so einer Krankheit ist nicht zu spaßen. Menschen sterben daran. Das wissen sie mittlerweile doch."
Diese Stimme ist mir jedoch komplett fremd. Ich tippe auf einen Arzt, denn sein Ton klingt fachmännischen und furchtbar ernst.

"Ja ich weiß. Und abgesehen davon habe ich ihnen das schon oft genug gesagt: nennen sie mich einfach Jess", antwortet abermals die weibliche Stimme, nun wieder etwas versöhnlicher.

Was?
Es rattert einen Augenblick in meinen Kopf, bis es plötzlich Sinn macht.
Alles passt zusammen.
Jess ihr Geheimnis.. sie ist krank. Darum hat sie damals zu Jason gesagt, dass sie nicht bemitleidet werden will.
Wie konnte ich es nicht schon da kapiert haben? Hatte ich diese Möglichkeit so vollkommen ausgeblendet, weil ich es mir einfach nicht eingestehen wollte?

Gedanke für Gedanke schießen in meinen Kopf umher.
Die ganzen Anzeichen; ihr schwaches gehen, wenn sie denkt, dass niemand hinsieht.
Mein Herz klopft mit bis zum Hals und ich stelle mir augenblicklich alle Szenarien vor, was für eine Krankheit sie haben könnte.
Der Arzt meinte eine tödliche.

Eine tödliche.

Diesen Verlust werde ich nicht nochmal aushalten können. Dieser Gedanke kommt mir mit einem Mal. Diese Freundschaft wurde mühsam aufgebaut- zwischen Trümmern und Dunkelheit hinweg gedeihte sie und wurde von Tag zu Tag schöner, stärker.

Und jetzt muss ich erfahren, dass ihr Fundament, auf dem diese Freundschaft steht, nicht weiter ist, als eine große Lüge.
Eine weiter Lüge von meinem Leben. Eine weitere traurige Hoffnung.
Nicht mehr und nicht weniger.

Tränen bahnen sich aus meinen Augenwinkeln, die ich versuche tapfer weg zu blinzeln, während ich zurück taumle.
Ich bekomme eine Wand zu meiner Linken zu fassen und lehne mich schwer dagegen, als all diese Gedanken und Vorstellungen auf mich einprasseln.
Ohne Vorsichtig oder Verschonung.
Nur die grässliche Wahrheit.

Wolfsmond - Wolf der LegendeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt