Harry. {1}

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Ich erinnere mich noch daran wie alles schön war. Damals lächelte ich, damals lachte ich. Ich hatte Freunde und war beliebt. Ich hatte Spaß am Leben.

Heute stehe ich hier. Allein. Überall sind diese Narben. Überall habe ich diesen Schmerz. Mein Blick fällt auf dieses trostlose graue Gebäude vor mir. Die Menschen sehen alle so gleich aus. Mir wird schlecht. Gleich trete ich wieder in diese Hölle. Ein letzter Zug an meiner Zigarette und dann wird es wieder schlimm. Der Stummel unter mir wird kalt und ich nähere mich dem Klassenraum.
"Ey Schwuchtel, wie geht's?", höre ich Louis hämisch lachen. Ein Schlag trifft meinen Hinterkopf und ich sehe zu Boden. Mir wird so verdammt schlecht. Sag nichts, Harry. Sag einfach nichts. Bald hört es auf. Sag nichts. -schreie ich im Kopf. Und so schweige ich. Doch Louis gefällt das nicht. Er zieht mich zurück und schlägt mir auf die Wange. Der Schlag ist hart und tut weh.
Wir waren doch Freunde. Nur wegen einem Fehler? Warum tust du mir das an? Ich traue mich aber weiter nichts zu sagen und erblicke Zayn hinter Louis. Er zieht ihn zurück, flüstert ihm was zu und plötzlich landen harte Schläge in meiner Magengrube. Sie schlagen mich zu Boden und ich weiß einfach nicht warum? Was habe ich ihnen getan? Tränen laufen über meine Wangen. Es tut so weh. Warum tut es mir so weh?

So viele Fragen und dennoch gibt es keine Antworten. Ich versuche mich gar nicht mehr zu wehren und merke kaum die Schmerzen, die mir hinzugefügt werden. Blut sammelt sich in meinem Mund und dadurch merke ich erst, dass man mir wieder ins Gesicht tritt. Das Blut spucke ich neben mich und denke, es sei vorbei - wer's glaubt.

Als es dann zum Unterricht klingelt, nach gefühlten Jahren, und Schritte sich von meinem zerstörten Körper entfernen, öffne ich meine Augen. Mein ganzer Körper ist von Schmerzen übersäht und das einzige, was ich mir wirklich wünsche ist meine Klinge hier zu haben. Als ich nach weiteren 10-20 Minuten meinen Körper wieder unter meine Kontrolle gebracht habe, nehme ich mir meine Sachen und laufe zum Unterrichtsraum. Mein Kopf ist gesenkt und mein Körper sehnt sich nur nach einem Gefühl. Nach dem Gefühl Blut über meine Haut laufen zu lassen. Mein Versuch den Drang zu verdrängen scheitert kläglich.

Ich komme in der Klasse an und versuche mich für meine 'Verspätung' zu entschuldigen. Doch es gibt keine wirkliche Entschuldigung. Ein Fehler. Ein winziger Fehler in dem ich zu mir stand machte mein Leben kaputt. Ist es so schlimm auf das eigene Geschlecht zu stehen? Dafür konnte doch niemand etwas. Und nun? Nun verlor ich alles. Von heute auf morgen war alles vorbei. Ich durfte nicht mehr lachen, sondern nur noch Schmerz spüren.
Louis und Zayn sehen mich an. Sie töten mich, allein durch ihre Blicke und ich weiß nicht warum sie mich plötzlich so hassen. Meine besten Freunde.
"Setzen Sie sich, Styles.", sagt mein Lehrer und so laufe ich durch den furchtbaren Raum und setze mich auf den hintersten Platz. Ganz allein. Und alle sehen mich an. Als wäre ich ein neuentdecktes Tier oder ein Insekt. Und es tut so weh. Diese Blicke töten mich. Und innerlich bin ich schon tot. Ich muss nur noch meine Seele aus meinem Körper befreien. Als sie wegsehen bemerke ich endlich ein anderes Gefühl als die Schmerzen und meinen Todesdrang. Mir laufen Tränen über die Wangen. Doch niemand bemerkt es, denn ich bin allen egal. Sie wollen mich nur tot sehen, doch nicht nachfragen was mit mir los ist. Und immer wieder frage ich mich. Ist es so schlimm schwul zu sein? Und ich verstehe den Hass immer weniger. Je mehr ich mich frage, desto weniger Antworten habe ich. Bis ich aus dem Raum renne. Sogar mein Lehrer schreit "SCHWUCHTEL KOMM ZURÜCK!" Und ich weiß einfach nicht warum es so weh tut.
Ich renne raus aus dem Gebäude, runter vom Gelände an einen kleinen See. Ich setze mich an das Ufer und krame in meinem Rucksack rum bis ich sie finde. Die Klingen.
Ich lasse eine von ihnen ganz langsam immer wieder auf meiner Haut entlang gleiten. Bis sie auf den Boden fällt, ihre Spitze voller Blut. Und ich sehe mir die Tropfen auf meiner Haut an. Wie sie langsam in den Sand und auf meine Hosen fallen. Ich schließe meine Augen und setze mich dem Schmerz aus. Alle Erinnerungen ziehen an mir vorbei. Ich sehe mich wie ich auf der Party bin. Eine Flasche in der linken Hand die ich immer wieder zu meinem Mund führe. Ich trinke immer wieder große Schlücke. Ich lache und habe Spaß. Sehr großen Spaß. Bis ich das Gesicht von Ethan in meiner Hand halte. Dieses makellose, schöne Gesicht. Wir sehen uns kurz in die Augen und dann beginnt er mich zu küssen. Die Musik geht aus. Ich spüre nur noch wie wir auseinander gezogen werden. Ich weiß noch wie ich auf den kalten Boden aufpralle, mich umsehe und alle anfangen mich und ihn zu schlagen. Es tut weh. Es tut so verdammt weh. Und in diesem Moment begann ich mein Leben zu hassen. Alle sahen zu. Selbst meine Eltern! Niemand half mir auch nur Ansatzweise. Zuhause wachte ich auf. Wie ein Hund lag ich auf dem Boden. Niemand sprach mit mir. Niemand sah mich an. Es tat so weh. Noch schlimmer als meine Wunden. Ich spüre wieder wie Tränen in mir aufkommen, genau wie in dieser Nacht. Und das war mein Fehler. Ich habe einfach jemanden geküsst. Wäre es ein Mädchen gewesen hätte niemand was gesagt. Niemand hätte einen einzigen verdammten Ton gesagt. Aber weil es Ethan war drehen alle durch. Dafür hasst mich jeder. Und ich weiß einfach nicht warum.

Ich lege mich in den Sand und öffne meine Augen wieder. Ich sehe in den Himmel und versuche den Wolken Formen zuzuordnen, genau wie damals als ich noch ein Kind war. Doch ich erkenne nichts mehr in den Wolken. Ich sehe rein gar nichts. Sie sehen nur noch aus wie mehrere Wattebäusche. Alle gleich nur verschieden groß.
Die Depressionen nahmen mir meine Fantasie, es tat weh das eingestehen zu müssen. Aber niemand wusste, dass ich Depressionen hatte. Es war einfach allen egal. Und dann wende ich meinen Blick von den Wolken ab und setze mich wieder auf. Mein Arm blutet immer noch. Die Blutung will einfach nicht aufhören. Ich sehe mir das Wasser an und entdecke eine kleine Flasche. Ich laufe bis zum Ufer vor und versuche sie zu fangen in der Hoffnung etwas Ablenkung zu finden. Als ich sie endlich greifen kann öffne ich sie und ziehe den kleinen Zettel darin raus.
Er ist gewellt, sieht aus als wäre Wasser raufgekommen. In den kleinen Wassertropfen erkenne ich einzelne schwarze Pigmente und so erkenne ich, dass die Flasche von einem Mädchen in den See geworfen wurde. Es müsste geweint haben, denn ansonsten wären die Tropfen nicht schwarz. Ich falte den Zettel auf und lese darin 'Dear Suicide Room...' , den Rest kann man nicht mehr entziffern, die dunkelblaue Tinte ist verwischt. Suicide Room...? Denke ich. Was soll das sein? Suizid Raum. Was ist das? Ich nehme meine Tasche und laufe heim, setze mich an meinen Laptop und gebe Suicide Room ein. Es öffnet sich mir eine Seite und ich kann die Nachrichten lesen.

@Chat:
@i'Mdeath
Ich kann nicht mehr. Holt mich aus diesem Leben raus.

@AnasBrokenDoll
Ich auch nicht. Ich wurde heute wieder verprügelt. Ich wollte nur meine Bücher haben...

Ich lese mir alle Nachrichten durch und logge mich dann auch ein. Auf dem Handy tue ich das Selbe. Ich werfe einen letzten Blick auf meinen Arm und betrachte meine Wunde. Endlich hatte sie aufgehört zu Bluten. Es war wie ein kleines Wunder, obwohl es doch in Wahrheit unbedeutend war. Und dann lese ich weiter im Chat. Ich lese mir die Narben durch und weiß genau, dass alle bald nicht mehr da sein werden. Trotzdem fange ich an mitzuschreiben. Ich will mich verstanden fühlen, nicht mehr allein mit meinem ganzen Leid sein. Und sie verstehen mich. Sie wissen genau wie es mir geht ohne, dass ich auch nur Hallo schreiben konnte. Ich spüre sofort an der Art wie sie schreiben, dass sie mich verstehen und es tut so verdammt gut. Ich sehe mein Profil an und überarbeite es noch ein Mal.
Name: @IwannaDie
Alter: 17
Herkunft: -unbekannt-
Profilbild: einfach nur ein paar blaue Flecken.

Und dann lese ich weiter im Chat und ich fühle mich immer verstandener, auch wenn ich keinen dieser Menschen kenne. Ich lese immer weiter und weiter und dann höre ich meinen Vater die Treppen hochlaufen, er kommt zu mir und ich schalte schnell Netflix ein um nicht aufzufallen, aber selbst wenn, es wäre ihm egal.
"Was tust du da schon wieder, Schwuchtel, Hmh?", fragt er und sieht auf meinen Laptop, dann klatscht er mir kurz eine und geht wieder weg. Und dann bekomme ich wieder Tränen in den Augen und schalte wieder in den Suicide Room.

@Chat
@IwannaDie:
Hallo. Hat jemand kurz Zeit?

Und viele Menschen schreiben mir. Ich schildere meine Geschichte und endlich versteht mich jemand. Endlich gibt es für kurze Zeit keinen Hass mehr und mir geht es kurz gut. Ganz kurz. Nur für einen einzigen Augenblick. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher als, dass es für immer so bleiben würde.

Suicide Room.Where stories live. Discover now