Kapitel 6

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Wir saßen alle am Tisch.

Im Hintergrund lief irgendeine Jazzmusik. Susi hatte uns allen Tee gebracht und selbst gebackene Kekse in die Mitte gestellt.

Namjoon schaute stirnrunzelnd aus dem Fenster. Chung-Hee rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum und knetete seine Hände. Susi trank ab und zu aus ihrer Tasse und schien nur auf das Drama zu warten. Und ich starrte einfach nur an die Wand.

Mir kam das alle so unrealistisch vor. Wir hatten meinen Bruder einfach nach einem Tag gefunden, um dann zu erfahren, dass er sich versteckte. Dies aber nicht vor der Polizei, sondern von irgendeinem Ricki und seiner Gang.

Eigentlich saßen wir hier, weil Susi gemeint hatte, dass Chung-Hee uns eine Erklärung schuldig war.

Und nun warteten wir eben.
Seit 15 Minuten.

"Fängst du heute noch an, oder ist dir morgen lieber?", sprach Namjoon meine Gedanken aus. Sein Blick noch immer auf das Fenster fokussiert.

Mein Bruder erschrak leicht und zuckte zusammen. Nervös schaute er zu seinem alten Freund. Schwer schluckte er und sein Adamsapfel zuckte.

"Wo soll ich anfangen? Ihr wisst ja eigentlich schon alles wichtige." Meinte er das wirklich?

Nun drehte sich Namjoon um und starrte Chung-Hee ungläubig an. Sein Kiefer war angespannt. Er sah aus, als würde er erneut explodieren.

"Wieso bist du abgehauen?", fragte ich also schnell.

Die Augen der beiden Männer zuckten zu mir. Ich starrte noch immer an die Wand.

Es war alles so unrealistisch.

"Ich wollte es."

Mehr nicht.

Ich hatte erwartet, dass noch etwas kommt, aber da war nichts mehr.

Er meinte, dass würde reichen.

Nun wand ich meine Augen auf ihn.

"Du wolltest?", fragte ich weiter. Ich erkannte meine Stimme selbst nicht mehr. Da fehlte jede Emotion.

Chung-Hee merkte es ebenfalls. Er fuhr sich durch die Haare und schaute überall hin. Nur nicht zu mir.

"Ja. Namjoon wurde immer berühmter. Die Zeit alleine immer länger und das alles immer schwerer. Die Schule war eine Last, genauso wie der Gedanke an die Zukunft. Alle kamen vorwärts, hatten Träume und ich blieb zurück. Und dann kam eben das Angebot. Ich sollte für eine Firma arbeiten und durfte dafür umsonst wohnen und essen. Es lief zuerst gut, doch ich wurde rausgeschmissen und die Jobs häuften sich an.
Dadurch kam es dann letztendlich, dass Ricki mich wieder sah und ich Mitglied wurde."

Er sackte zusammen, wie ein Luftballon ohne Luft.

Mein Blick ruhte immer noch auf ihm.

"Ich habe dir eine Chance gegeben. Sie hätten dich angehört. Du hattest Talent.", fing Namjoon an. Er wurde immer roter. Plötztlich stand er auf. Seine Hände knallten auf den Tisch und die Tassen klirrten. Susi schien nun vollkommen aufmerksam zu sein. "Und nun willst du allen anderen die Schuld für deine Lage geben? Weil du nicht fähig warst, nachzudenken?"

Namjoons Kiefer zuckte vor Anspannung. Chung-Hee starrte auf den Tisch. Doch auch er schien sich zusammen zu reisen.

"Hast du einen Moment an unsere Eltern gedacht? Wie sie sich um dich gesorgt haben? Wie sie immer gehofft hatten, dass du es bist, wenn das Telefon klingelte? Und nun sagst du, dass du abgehauen bist, weil du deinen Problemen aus den Weg gehen wolltest? Die jeder hat? Jeder Mensch auf dieser Erde? Sag mir Chung-Hee: Hast du nur einmal nachgedacht?"

Ich wollte ihn mit meinem Blick durchbohren. Ihn mit meinen Worten verletzten. Ihn so leiden lassen, wie unsere Eltern. Er hatte es verdient.

Chung-Hee machte den Mund auf, doch als Namjoon leise knurrte, schloss er ihn wieder. Es war seltsam, wie er mich die genaue Zeit verteidigte. Trotz meiner harschen Worte am Anfang, stand er die ganze Zeit hinter mir.

"Das ist ja ganz rührend, aber was macht ihr wegen Ricki?", mischte sich Susi ein. Fragen nippte sie an ihrer Tasse. Sie musste ihren Spaß haben.

Namjoon schaute fragend zu mir. Als würde nun alles an mir hängen.

Ich ließ die Tasse los, welche ich die ganze Zeit fest umklammert hatte. Ein letztes Mal betrachtete ich meine Bruder. Zum ersten Mal richtig. Zum ersten Mal, seit so vielen Jahren.

Erst jetzt fielen mir die vielen Ohrringe auf und dass sein Ansatz blond war. Seine Augenbrauen waren von zwei Strichen unterbrochen. Wie es eben mode war. Doch er war gealtert und dünn. Ein Schatten seiner selbst.

Und dann wurde mir klar, dass mein Bruder vor drei Jahren gestorben war. Das hier ist nur jemand, der mir und meinen Eltern Schmerzen und Leid zugefügt hatte.

Deswegen stand ich auf und schaute auf ihn herab.

"Mir ist egal, was mit dir passiert, Chung-Hee. Von mir aus können dich tausende Menschen umbringen wollen. Für mich bist du schon lange tot." Ich versuchte meinen ganzen Hass und meine ganze Abneigung deutlich zu machen. Es funktionierte, denn er sah aus, als würde er erneut anfangen zu weinen.

Namjoon musterte mich still und Susi staunte leicht.

"Danke für alles Susi. Namjoon, ich warte unten auf dich."

Schon machte ich kehrt und hetzte aus der Wohnung.

Ich fühlte mich einerseits schrecklich, doch anderseits schien alles in mir taub zu sein.

Das hier musste eine Traum sein.

Als ich unten vor der Haustür war, schaute ich raus und bemerkte, dass niemand mehr draußen war. Das war nie ein gutes Zeichen. Wusste ich aus eigener Erfahrung. Fragend blickte ich durch die Tür und sah vier Männer. Sie waren tätowiert und hatten alle eine Glatze. Auch waren sie groß und kräftig.

Ein komisches Gefühl beschlich mich.

Plötztlich kam noch ein Mann. Dieser hatte zurück gegeelte Haare und trug eine Lederjacke. Mit einem....R?

Ernsthaft? Ging es noch auffälliger?
Was los mit dem Typen?

Wie, als hätte er meine Gedanken gehört, drehte er sich zu mir um.

Er blickte mich und dann sein Handy an. Dann grinste grinste er dreckig.

Fuck!!!

Ich drehte mich um und rannte die Treppen wieder hoch.

Sie kannten mich!
Sie werden Namjoon und Chung-Hee auf jeden Fall kennen!
Wir sind sowas von geliefert!

Außer Atem und total verschwitzt rannte ich in Namjoon. Er kam gerade erst aus der Wohnung. Hinter ihm ein traurig aussehender Chung-Hee und eine lächelnde Susi. Jedoch schauten mich nun alle fragend an.

Namjoon hielt mich fest und verhinderte, dass ich wieder runter fiel. Panisch klammerte ich mich an ihn und starrte ihn an.

"Sie sind da! Sie haben mich gesehen!", haspelte ich aufgebracht.

"Wer ist s-"

"Chung-Heeeee!", kam es von unten.

"Nein.", hauchte mein Bruder. Nun schien er auch Panik zu haben.
Susi wurde blass. Namjoon machte bloß ein schockiertes Gesicht.

Susi fing sich als erste.

"Kommt rein!", zischte sie. Der Rapper packte mich und zog mich mit sich. Leise wurde die Tür geschlossen.

Mein Herz pochte schnell und da Namjoon mich noch immer festhielt, spürte ich auch seins schnell pochen.

"Was jetzt?", fragte Namjoon.

Ja! Was jetzt?!

Stay Away || GERMAN|| Where stories live. Discover now