1. Kapitel

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Ich heiße Amy Jones, bin 15 Jahre alt, habe hellblonde Haare und babyblaue Augen, habe den tollsten Freund der Welt, einen riesigen Freundeskreis und bin rundum glücklich. Meine Familie ist komplett und wir unternehmen jedes Wochenende etwas und streiten uns nie.

Nun, ein Blick in den Spiegel erzählt mir etwas anderes.
Mein dunkelbraunes Haar ist zu zwei Zöpfen geflochten, aber wie üblich stehen Einzelne ab. Meine grünen Augen leuchten nicht so wie früher. Sie sind getrübt. Ich sehe nicht aus wie ein vierzehnjähriges Schulmädchen. Ich sehe aus wie 19. 19 und gebrochen.
Mein T-Shirt ist zerknittert. Mama hat es mal wieder nicht gebügelt. Sie hat seit zwölf Monaten und einem Tag nichts mehr gebügelt. Das war der Tag, an dem sie sich Nathan ausgesucht haben. Der 23. Mai. Am Morgen sind wir noch zusammen zur Schule gegangen. Am Abend, als er nicht kam, wussten wir alle, was geschehen war. Es geschieht bei fast allen irgendwann. 85% der Bevölkerung von Reius wird ermordet. Meistens aber erst, wenn sie schon Kinder haben. Manchmal müssen aber auch Kinder dran glauben. Nathan war eins von ihnen. Sie haben ihn schon längst vergessen. Aber ich werde dies nie tun.

Der Weg zur Küche ist kurz. Ich schmiere mir schnell ein Brot, dann schleiche ich zum Schlafzimmer meiner Eltern. Leises Schnarchen dringt durch die Tür. Ich schleiche zurück und mache meinen Eltern ihr Frühstück. Leise stoße ich die Schlafzimmertür auf und stelle den Teller auf den Hocker vor ihrem Bett. Auf Zehenspitzen gehe ich zu meinem Vater und küsse ihn auf die Stirn. Dann trete ich leise den Rückzug an, aber nicht, bevor ich meiner Mutter einmal die Hand gestreichelt habe. Sie schlägt die Augen auf und lächelt, als sie mich sieht. "Lera. Du siehst hübsch aus", flüstert sie und kurz kann ich ein Lächeln erkennen. Ich mag es, wenn sie lächelt. Sie wirkt dann nicht mehr so traurig. "Danke", flüstere ich zurück. "Bis heute Nachmittag." Ich gehe vorsichtig aus dem Zimmer. Bis heute Nachmittag. Jeden Morgen sage ich es zu ihr, es ist wie ein Gebet. Etwas, was man jeden Tag tut, weil es zur Routine gehört. Ich weiß, dass, wenn sie wollen, dass ich sterbe, ich auch sterben werde und sie weiß es auch. Aber ihr geht es sowieso schlecht, seit das mit Nathan passiert ist. Was würde es ihr bringen, wenn ich hoffentlich sehe ich dich heute Nachmittag wieder sagen würde? Nichts außer noch mehr Angst. Wir müssen damit leben, dass wir in permanenter Todesgefahr schweben.

Ich nehme meine graue Schultasche und packe schnell das Brot hinein, dann gehe ich aus der Tür. Vorher streiche ich noch kurz über das eingerahmte Foto von Nathan, das auf der Kommode im Flur steht. Das ist ein weiteres Ritual, das irgendwie dazu beiträgt, dass ich nicht von dem riesigen Ball namens Trauer erdrückt werde.
Ich renne das Treppenhaus herunter. Nicht, weil ich es eilig habe. Ich hasse das Treppenhaus einfach. Es ist so erniedrigend. Unsere Wohnung ist im dritten Stock. Es gibt fünf. In jedem Stock sind vier Wohnungen, unsere ist die kleinste. Wir leben dort seit Nathans Tod. Das Treppenhaus stinkt nach Schweiß und Blut. Nathan hätte es nicht gefallen.

Als ich die schwere Haustür aufdrücke, stehe ich direkt in Reius. Wie ich diese Stadt hasse. In unserem Viertel stehen nur diese grauen Wohnhäuser. Auf der großen Straße fahren Autos entlang, aber niemand außer ein paar Schülern ist auf der Straße unterwegs.
Eigentlich ist das Wetter schön. Die Maisonne scheint bereits und es verspricht, ein warmer Tag zu werden. Aber ich habe keine Zeit, mich über das Wetter zu freuen, ich muss versuchen, so schnell wie möglich in der Schule zu sein. Je schneller ich bin, desto größer ist die Chance, den Tag zu überleben. Also haste ich los, immer wachsam um mich schauend. Das Schulweg-Gefühl beschleicht mich. Vor jeder Seitenstraße stoppe ich und schaue mich um. Eigentlich hat es gar keinen Sinn, mich so aufzuführen, denn wenn sie mich hier nicht kriegen, tun sie das trotzdem 100 Meter weiter. Aber mein Verhalten ist nicht untypisch für Reius. Und das ist der Grund, warum ich diese Stadt so hasse. Alle haben Angst. Und die Angst ist berechtigt.

Vor ungefähr 200 Jahren haben sich die Länder in Städte aufgespalten, die als Staaten zählen. Bei den meisten Städten hat das System auch gut geklappt. Aber Reius wird nur noch von Verbrechern regiert. Wir haben keine großen Gesetze und die meisten werden sowieso nicht eingehalten. Die Namen der Bestimmer sind unbekannt. Sie agieren im Dunkeln, es gibt viele von ihnen. Wir wissen nicht, wie sie aussehen oder wie viele sie sind. Bis sie uns ermorden.

Reius ist verwinkelt. Im Laufe der Zeit sind immer mehr kleine Gässchen entstanden, einen realitätsgetreuen Stadtplan gibt es längst nicht mehr. Ich mache mir darüber keine Gedanken, es ist am besten für mich, wenn ich mich in mir bekannten Gegenden bewege. Normalerweise bedeutet das von unserer Wohnung zur Schule und zum Markt. Es gibt in Reius nur Geld für öffentliche Angelegenheiten. Miete, Schulgeld. Nahrung tauschen wir. Normalerweise klaue ich nichts, nur, wenn die Briefe meines Onkels abgefangen wurden. Mein Onkel ist als Teenager geflohen - ein gefährlicher und eigentlich aussichtsloser Akt, der aber bei ihm geklappt hat. Jetzt lebt er in Felicum, glücklich und wohlhabend. Er lässt regelmäßig Tauschware für uns in die Stadt schmuggeln, kein Geld, weil es in Felicum eine andere Währung gibt als hier.

An einer Hauswand sehe ich einen Schatten vorbeihuschen. Sofort zucke ich zusammen, bereit, wegzurennen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und mir bricht der Schweiß aus. Erst als ich den streunenden Hund sehe, der auf dem Weg entlang springt, beruhige ich mich wieder. So ist es jeden Tag. In jeder Bewegung sehe ich  einen meiner Mörder. Manchmal bilde ich mir die Dinge auch ein. Ich habe meinen Eltern nichts davon erzählt, ich will ihnen weitere Sorgen um mich ersparen. Sie schauen mich jetzt schon immer so besorgt an. Ich weiß, dass sie mich eigentlich schützen würden, mit all ihrer Kraft, aber meine Mutter verlässt kaum mehr das Bett, mein Vater arbeitet von 17 Uhr bis um 5 Uhr für gerade genug Geld, um die Miete zu bezahlen, weshalb er mich nicht begleiten kann. Ich nehme es ihnen nicht übel, ich kann sie verstehen, aber manchmal wünsche ich mir, dass nachmittags, wenn ich nach Hause komme, eine fröhliche Mutter am Fenster steht, mich anlächelt und Kuchen gebacken hat. Ich wünsche mir, dass wir abends zu dritt am Tisch sitzen und uns über unseren Tag austauschen.
Aber ich wünsche mir ja auch, dass Nathan zurückkommt.

Lera LinchDonde viven las historias. Descúbrelo ahora