10. Kapitel

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Oh ja, diese Stimme kenne ich. Aber woher? "Hey, Lera!", ertönt eine zweite, mir ebenso bekannte Stimme. Heute Morgen erst sagte sie Hi Lera, wie läuft's? zu mir. Und ich habe ihr geantwortet. Gut gelaunt war ich. Ich habe ihm vertraut. Aber woher kenne ich den zweiten Mann?

Noch ist der Revolver nicht auf mich gerichtet. Noch könnte ich fliehen. "Lera, du könntest jetzt gehen und darauf warten, dass wir dich ein anderes Mal holen. Aber glaub mir, beim zweiten Mal werden wir dir nicht sagen, wer wir sind. Du wirst es nie erfahren. Entscheide dich", sagt der Unbekannte. Ich entscheide mich. Ich bleibe. Sterben werde ich sowieso. Aber so werde ich nicht unwissend sterben.

"Hast du dich entschieden, Lera Linch?", fragt Jake immer noch mit diesem Angst einjagenden Grinsen auf dem Gesicht. Ich schlucke. Ich weiß, dass das hier entgültig sein wird. "Ja. Ich bleibe. Wenn ihr es mir erklärt." Zur Antwort schaue ich in den Lauf der Pistole. 

Nicht weinen. Ich will nicht weinen. Aufrecht werde ich zugrunde gehen. Aufrecht und ohne Tränen. Ich blinzele zwei Mal, damit ich auch wirklich nicht in Tränen ausbreche. "Lera,", sagt die Stimme, der ich kein Gesicht zuordnen kann, "wenn du willst, dass wir es dir erklären, dann setz dich bitte da an die Wand und mach keine Anstalten, doch noch deine Meinung zu ändern, sonst müssen wir das ganze Prozedere leider etwas abkürzen." Ich nicke und setze mich hin. "Fangt an", fordere ich, doch meine Stimme zittert.

"Hohoho, mal langsam, meine Freundin", meldet sich Herr Fatcher zu Wort. Herr Fatcher. Ihm habe ich am allermeisten getraut. "Weißt du überhaupt, wer wir alle sind? Nun, mich solltest du langsam kennen. Ich bin schon ewig dabei, stimmt's, Jake?" Mein Trainer oder was auch immer er war, nickt. "Jep, mich kennste ja auch, Lera", fährt Jake fort. "Ich wünschte, es wäre nicht der Fall", murmele ich. "Hast du was gesagt, Lera? Ich werde nicht so gerne unterbrochen, weißt du?", sagt der Dritte. Ich schüttele den Kopf. Zugegeben, seine Stimme ist toll. Wenn ich sie nur zu einem anderen Zeitpunkt gehört hätte...

Da fällt es mir auf. Das habe ich schon einmal gedacht. Das ist... "Ich bin der Redner", sagt er gleichzeitig. Der Redner von Papas Trauerfeier. Oh Gott. Wer hat noch alles Mordpläne gegen mich geschmiedet? Vielleicht meine eigene Mutter?

"Warum Nathan? Warum mein Vater? Warum ich?, frage ich, nachdem ich die Information halbwegs verdaut habe. "Warum nicht?", fragt Herr Fatcher schulterzuckend. "Weil wir eine glückliche Familie waren. Weil wir noch jung waren!" Diesmal schreie ich fast. "Schsch...", der Redner hält einen Finger an den Mund, "wir wollen dir doch noch alles erzählen, oder?" Als ich nichts entgegne, ergreift Jake das Wort. Der gute alte Jake, der monatelang seine Tage für mich geopfert hat? Wieso? Damit er mich dann selbst erschießen darf, wenn es soweit ist?

"Wir hab'n schon jüngere erwischt. Nimm's also nich so tragisch. So'n junges armes kleines zartes Opfer des Bösen bist du gar nich. Mehr so'n Mittelding." "Aber hättet ihr nicht eine andere Familie nehmen können?", frage ich, den Tränen näher als je zuvor. "Wozu? Damit jetzt jemand anderes hier rumjammert? Ne, ihr seid schon die richtige Wahl. Glück, das zerbricht, immer weiter in Trauer versinkt und man selbst ist der Grund dafür, das ist ein tolles Gefühl, Lera. Besonders wenn's auch noch so kluge Köpfe sind wie du und Nathan", erklärt Herr Fatcher. Ich spucke auf den Boden. 

Inzwischen stehen alle drei um mich herum, Jake in der Mitte hält den Revolver genau auf mein Herz. Aus der Tasche des schicken Jackets von Herrn Fatcher sehe ich eine weitere Waffe hervorragen. Selbst wenn ich also in der Lage wäre, Jake zu erledigen, wäre es zwecklos. Eine trotz mehrerer Monate Trainings immer noch ziemlich schwache Vierzehnjährige gegen drei ausgewachsene Männer mit Waffen - das klappt selbst in schlechten Actionfilmen nicht.

Ich unterdrücke die Wut und den Hass, der sich immer weiter in mir aufstaut. Wie kann man so etwas nur geschehen lassen? Wie kann das hier real sein? "Warum?", frage ich, unter Anstrengungen versuchend, nicht zu schreien und zu heulen wie ein Schlosshund. "Warum tut ihr den Leuten das an?" Der Redner von Papas Trauerfeier tritt einen Schritt nach vorne. "Oh, das wurde ich schon so oft gefragt. Wie könnt ihr nur? Wisst ihr, was ihr hier tut? Hiilfe! Ich antworte meistens nicht mehr drauf, aber weil du's bist, Lera. Ihr werdet das hier nicht verstehen, aber es macht uns Spaß. Und das hier ist unser Job. Bei Tag mögen wir Lehrer oder sonst etwas sein, das ist unser echter Beruf. Wir sind die Gang. Oh, und es ist ein tolles Gefühl, Macht über euch zu haben. Wir sind die Könige. Die Gang, vor der sich die ganze Stadt fürchtet. Die Gang, die Tod über euch alle bringt."

"Und weil du jetzt gleich noch einmal Warum? fragen wirst", meint Herr Fatcher, "beuge ich dem mal vor. Weil es uns möglich ist. Weil wir es können. Nichts kann uns aufhalten. Gut, mit Polizei wäre es ein bisschen lustiger, weil wir uns dann zumindest etwas mehr einfallen lassen müssten, aber man kann ja nicht alles haben. Sag mal, ich müsste demnächst zum Mittagessen, kommst du noch irgendwann zum Schluss?"

Irgendwie lässt mich die Vorstellung, wie Herr Fatcher gleich zu Mittag essen wird, direkt nachdem er mich hat sterben sehen, erstarren. Dann fasse ich mich wieder. "Eine Frage habe ich noch", erkläre ich, "warum habt ihr euch all die Mühe mit mir gemacht?""Ach das", sagt Jake, "wir wollten einfach 'n bisschen mehr Spaß ham. Apropos... jetzt wo ich Monate mit dir verbracht hab, möchtest du's nich zumindest ausprobier'n? Nich, dass es was nützen würd, aber nur, damit ich meine Zeit nich komplett verschwendet hab?"

Ich merke, wie ich immer weiter in mir zusammensinke. "Nein, danke. Den Triumpf lasse ich euch nicht. Und jetzt bringt es zu Ende."

Jake zuckt mit den Schultern. "Du wolltest's nich anders."

Herr Fatcher tritt nach vorne. "Wie heißt du?" Das ist wohl so eine Art perverses Todesritual von ihnen. "Lera Linch", antworte ich, gerade aufgesetzt. Herr Fatcher lacht. "Bald wird es nur noch ein Name sein."

Der Redner tritt nach vorne. "Wie alt bist du?" Ich schlucke. "Vierzehn." Er lacht. "Bald wird es nur noch eine Zahl sein."

Jake tritt nach vorne. "Wie groß bist du?" Nicht weinen. "Einen Meter und 70 Zentimeter." Er lacht. "Bald wird es nur noch ein Leichnam sein." Ein letztes Mal zielt er genau. "Und bald ist genau jetzt."

Eine einzelne Träne rollt meine Wange herunter.

Dann ist es vorbei.



Lera LinchWhere stories live. Discover now