8. Kapitel

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In letzter Zeit, und damit meine ich die letzten fünf Monate, ist mein Leben ziemlich langweilig. Es ist immer gleich. Morgens zum Training, nachmittags nach Hause. Dann duschen, essen, schlafen, Mama versuchen, irgendwie aufzuheitern, zum Training. Nach einem Monat ungefähr hat der Muskelkater aufgehört, sich täglich bei mir zu melden. Ich habe Muskeln bekommen. Ich fühle mich tatsächlich sicherer. Selbst Jake ist etwas offener geworden. Ich habe angefangen, ihn irgendwie zu mögen in seiner etwas spröden Art. Über Papa bin ich halbwegs hinweggekommen. Ich habe versucht, positiver zu denken, wie er es gesagt hat. Und zu positiver denken gehört denke ich auch, nicht die ganze Zeit wegen ihm in Tränen auszubrechen. Mama wird es nie ganz verkraften, das weiß ich. Sie wird immer daran denken, dass er tot ist. Das ihr Sohn tot ist. Und irgendwann wird sie auch daran denken müssen, dass ihre Tochter tot ist.

Ich weiß selbst, dass das Training nur eine Möglichkeit ist, mein Leben zu verlängern. Das ist genauso wie manche Medikamente bei Krebskranken. Sie können nicht heilen, sie verlängern nur ihr Leiden.

Ich weiß, dass ich erst vierzehn bin. Ich sollte nicht so denken. Ich verwerfe gerade meine guten Positive-Gedanken-Vorsätze, stattdessen sollte ich meine Gedanken an Fragen verschwenden, die den Belang von Was ziehe ich morgen für ein passendes Accessoire zu meinem Shirt an? haben. Aber da ich nicht einmal weiß, ob ich morgen überhaupt noch am Leben sein werde, kann ich mir das nicht leisten. Ich mag frühreif und überernst erscheinen, aber ich habe nun einmal andere Probleme als der Rest der Welt. Ich lebe nicht da, wo mein Onkel ist. Ich lebe nicht in einem glücklichen Staat. Ich lebe nun einmal in Reius. Und damit muss ich klarkommen. Ob ich das nun will oder nicht.

In letzter Zeit denke ich viel an den Tod, auch wenn ich versuche, es nicht zu tun. Aber wenn, frage ich mich häufig, ob es ein Leben danach gibt. Und wenn ja, wie es wohl aussieht. Und ob Papa und Nathan auch dort sein werden.

Ich frage mich auch oft, wann Mama zum Opfer wird. Vielleicht ja sogar vor mir. Mama hat es nicht verdient, so früh zu sterben. Ja, ich bin jünger als sie, aber Mama hat sich in ihrem ganzen Leben nichts zuschulden kommen lassen. Gar nichts. Und ich schon. Ich habe in meinem vierzehnjährigen Leben schon viel kaputt gemacht. Ich habe beleidigt, ich habe gestohlen, ich schwänze die Schule, mein Banknachbar ist höchstwahrscheinlich wegen mir gestorben. Ich will nicht noch weitere Todesfälle hervorrufen, ich will niemandem mehr wehtun, ich will eine glückliche Mutter, ich will eine glückliche Familie! Und ich habe nicht einmal ein langes Leben vor mir.

Ich werde und will wahrscheinlich auch nie verstehen, warum es ausgerechnet Familie Linch sein musste. Warum diese Idioten nicht mal auf die Idee kommen, sich selbst umzubringen. Ein großes Gemetzel und viele Leichen, schon sind alle Probleme aus der Welt geschaffen.

Wenn ich wüsste, dass danach niemand mehr sterben muss, würde ich mich jederzeit von ihnen umbringen lassen. Herr Fatcher kann mich für ach so schlau halten, inzwischen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass er falsch liegt. Ich bin nicht klug. Mein Opfer wäre klein. Sehr klein. Winzig.

Ich glaube, ich sollte einen Abschiedsbrief schreiben. Einfach, damit die Welt weiß, dass einmal eine Lera Linch existiert hat. Dass sie in Reius gelebt hat, bis sie mit vierzehn Opfer der Gangs wurde. Dass sie ihre Mutter geliebt hat. Dass sie trotz allem die Welt irgendwie geliebt hat. Und dass sie gerne länger gelebt hätte.

Hallo Mama!

Wenn du das hier liest, bin ich tot. Ich habe diese Welt für immer verlassen. Dich für immer verlassen. Und jetzt versuche ich, positiver zu sein, damit der Rest nicht von deinen Tränen verläuft und du ihn nicht mehr lesen kannst.

Erinnerst du dich noch an meinen ersten Schultag? Nathan war schon in der Grundschule und zur Einschulungsfeier hatte der Chor einen Auftritt. Ich habe ihn selten so engagiert und fröhlich erlebt. Als mein Name aufgerufen wurde und ich vorne stand, habe ich gesehen, wie dir die Tränen in den Augen standen. Trotzdem hast du gelächelt und am lautesten von allen applaudiert. Im Nachhinein ziemlich peinlich.

Oder erinnerst du dich an Nathans vierzehnten Geburtstag? Er hat von unserem Onkel Unmengen an Dingen bekommen. Das hörte gar nicht mehr auf. Das allerletzte Geschenk waren die besten Stifte, die ich je gesehen habe. Und Nathan hat sich damals unglaublich gefreut. Und weißt du auch noch, was seine erste Reaktion war, als er das Geschenk ausgepackt hat? Er hat ausgerechnet, wieviel das gekostet hat.

Und weißt du eigentlich, an welchen Tag Papa immer besonders gerne zurückdenkt? Mir hat er das einmal erzählt, da waren wir allein zu Hause. Der Tag war eigentlich total unbedeutend. Aber er freut sich trotzdem immer, wenn ihn irgendetwas an diesen Tag erinnert. Der Tag, den er meint, war fünfundzwanzig Tage nach Weihnachten. Er hatte sich freigenommen, weil das an Weihnachten nicht gegangen war und eigentlich haben wir gar nichts gemacht. Aber genau das hat ihm so gut gefallen, weil es so harmonisch gewesen sein soll. Ehrlich gesagt erinnere ich mich an diesen Tag nicht mehr.

Und du? Als ich klein war, kurz bevor die Schule anfing, da hast du mir gesagt: Lera, für dich würde ich alles tun. Und ich weiß, dass das stimmt. Du bist die beste Mutter, die ich haben kann und ich bin stolz auf dich. Jetzt, Mama, möchte ich nur noch eins für dich tun. Eins zu dir sagen. Papa hat es zu mir gesagt, jetzt sage ich es zu dir: Werde positiver. Du sollst nicht um uns trauern. Feiere, dass wir mit dir gelebt haben. Genieße die Zeit.

Zum Schluss geht es dann wohl zu mir. Ich liebe das Leben, und ich wäre gerne noch etwas länger dabeigeblieben. Aber ich liebe dich und Papa und Nathan noch mehr. Ihr seid mein Leben. Ich werde euch nie vergessen, egal wo ich bin.

Bis heute Nachmittag!

Lera

Es fühlt sich unwirklich an, den Brief jetzt unter mein Bett zu legen. Vielleicht findet sie ihn gar nicht. Aber zu sagen Hey, Mama, unter meinem Bett liegt ein Abschiedsbrief, also wenn ich tot bin, lies ihn dir durch! fühlt sich genauso falsch an. Ich werde eben auf mein Glück vertrauen müssen.

Ich stoße die Tür zum Flur auf und mache mich auf den Weg zum Training.

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Holla, meine erste Author's Note. Nennt man das so? Dieses Projekt hier neigt sich wie ihr seht, langsam dem Ende zu. Vielleicht noch drei Kapitel. Jetzt meine Frage an euch: Was glaubt ihr, wie geht es zu Ende? Schreibt einfach in die Kommentare, ich freu mich drauf

-Fire

Lera LinchWhere stories live. Discover now