3. Kapitel

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Für _Kaetzchen_

"Lera, du weißt doch, dass du nur hier auf die Schule gekommen bist, weil Nathan hier war, oder?", fragt mich Herr Fatcher. Er sitzt mir gegenüber, uns trennen nur sein Schreibtisch. In seiner rechten Hand befindet sich ein dunkelblauer Kugelschreiber, den er unermüdlich dreht. Ich hasse diese Angewohnheit von Menschen, immer etwas bewegen zu müssen. Ich nicke. Herrn Fatchers Büro ist genauso ordentlich wie der Rest von ihm. Ehrlich gesagt wusste ich noch nicht einmal, dass er ein eigenes Büro hat, bis er mich nach dem Unterricht fragte, ob ich mal kurz in sein Büro käme. "Und Nathan wurde nur aufgenommen, weil er sich als besonders klug herausstellte." Ich nicke erneut. "Deshalb mussten deine Eltern nur ein Viertel des Schulgeldes übernehmen. Genauso wie bei dir. Weißt du, worauf ich hinaus will?" Ich schüttele den Kopf. "Dein Bruder.... kann ich das einfach so sagen?" Ich nicke. "Ich hab es schon so oft gehört", murmele ich und schaue auf den Boden. "Dein Bruder wurde ermordet. Dein Bruder war sehr klug. Ich glaube, er hat es zu offen demonstriert", sagt Herr Fatcher, der sich inzwischen auf den Schreibtisch lehnt und mich unverdrossen anschaut. Ich wende meinen Blick ab. Stattdessen beobachte ich einen Weberknecht, wie er die Ordner in Herrn Fatchers Schrank erklimmt. Klasse 8, Klasse 9, Klasse 10. Ich frage mich, warum Herr Fatcher die Akten zu den Klassenstufen hier aufbewahrt. Ich sehe ihn immer nur im Lehrerzimmer sitzen. Und wenn ich Lehrerin wäre, würde ich das Zeug zu Hause aufbewahren. Aber wenn ich Lehrerin wäre, könnten die Schüler wohl nicht so ungemein viel lernen. 

"Er war ihnen zu gefährlich. Also musste er sterben. Du, Lera, bist auch klug. Als er vierzehn war, war er noch nicht so schlau wie du es gerade bist. Bei dir merkt es nur kaum jemand. Aber sie merken alles, Lera. Du schwebst in großer Gefahr", sagt Herr Fatcher eindringlich. Ich nicke. Welch Überraschung, Lera Linch schwebt in Gefahr! Ich frage mich langsam, was er eigentlich von mir will. Bisher hat er mir keinen Schritt weitergeholfen. "Der Tod von Gabriel, Lera, war eine Warnung. An dich. Dass deine Wolke, auf der du sicher bist, kleiner wird. Das Datum haben sie bewusst gewählt. Du erfährst am 366. Tag nach Nathans Tod, dass dein Banknachbar, den sie wohl für einen Freund von dir gehalten haben, auch ermordet wurde. Dass das ein Zufall ist, bezweifle ich." Da hat er wohl recht. Aber da haben sie ihre Nachforschungen wohl nicht allzu genau betrieben. Mit Gabriel war ich ungefähr so gut befreundet wie mit dem Schulleiter. Wie dem auch sei, es war effektiv. Und wenn Herr Fatcher recht hat, dann kann ich mir jetzt auch noch Schuldgefühle machen. Draußen hinterm Fenster stehen ein paar gelangweilte Teenager in der Gegend herum. Sie sind vielleicht 17 oder auch schon 18. Ihre Arme sind hinter ihrem Rücken versteckt. Wahrscheinlich rauchen sie oder so etwas. Wenn ich solche Gestalten sehe, bin ich jedes Mal ganz froh, dass ich dieses Alter wahrscheinlich nie erreichen werde. 

"Lera, du schwebst wirklich in großer Gefahr. Und ich werde alles tun, um dich zu schützen", fährt Herr Fatcher fort. Ich lächele. "Danke", sage ich, obwohl ich weder weiß, wofür ich mich bedanke noch wie er mir eigentlich helfen will. "Vielleicht solltest du ab jetzt nicht mehr zur Schule gehen, Lera", meint Herr Fatcher. "Aber..." "Es ist am sichersten für dich. Ich kann dir die Sachen bringen, morgens, dann verpasst du nichts. Die Arbeiten kannst du auch noch schreiben, wenn du willst. Abgemacht?" Ich nicke vorsichtig. "Wenn Sie es gutheißen..." "Ja, das tue ich. Am besten du gehst jetzt nach Hause, jetzt rechnen sie nicht mit dir. Ich lasse deinen Eltern eine Nachricht zukommen, deine Klassenkameraden werden nicht fragen. Und wenn doch, überlass es mir. Du darfst dir jetzt nichts anmerken lassen. Und lass dich nicht am Fenster blicken, auf keinen Fall. Tu einfach so, als wärest du vom Erdboden verschluckt." Ich nicke. "Dann geh jetzt. Viel Glück", sagt Herr Fatcher, dann schiebt er mich aus seinem Büro.

Eigentlich ist es ein wirklich schöner Tag. Die Sonne scheint schon, es ist warm. Selbst die hässlichen grauen Gebäude um die Schule herum erscheinen bei Sonnenschein weicher. Auf einem der Balkons hängt eine kleine Frau die Wäsche auf. Sie sieht aus wie 60, aber vielleicht liegt das an der Entfernung. Ich bezweifle, dass sie in ihrem Leben je etwas Spannendes erlebt hat, wenn sie wirklich so alt ist, wie sie von hier aus aussieht. 

Am liebsten würde ich noch ewig hier vor dem Schultor stehen bleiben. Aber ein vor sich hin lächelndes Mädchen vor dem Schultor um 10 Uhr morgens, die Jacke unterm Arm und auch mit der Tasche über der Schulter ist in Reius eine Seltenheit. Und je länger ich untätig hier herumstehe, desto stärker falle ich auf. Also mache ich mich auf den Heimweg. Ob Herr Fatcher meine Eltern schon informiert hat? Oder kann ich noch einmal kurz auf dem Markt vorbeischauen, ohne dass sie sich Sorgen machen? Ich beschließe, es zu versuchen. Um diese Uhrzeit sind zwar selten viele Menschen da, aber vielleicht ist das gute Wetter ja Grund für eine Ausnahme. Statt also den Weg nach Hause anzutreten, gehe ich in die entgegengesetzte Richtung zum Markt.

Der Markt ist eigentlich eine Sammlung von aus Kisten zusammengehämmerten kleinen Klötzen, in die ein Mensch gerade so hineinpasst. Eigentlich würde es zum allgemeinen Charakter von Reius passen, wenn es ein Schwarzmarkt wäre, aber da es niemanden gibt, der sich um Dinge wie Standgebühr kümmert, kann man das wohl nicht als Schwarzmarkt bezeichnen. Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, ich weiß nur, dass er genau wusste, wo man so etwas aufbauen muss. Um von den großen Wohnvierteln hierher zu kommen, braucht man nicht länger als fünf Minuten. Trotzdem befindet er sich nicht in den gänzlich ungeschützten Gegenden, sondern genau da, wo die Leute die Mittel haben, sich selber zu verteidigen, weshalb ich nie Angst davor habe, auf den Markt zu gehen. Hier sind fast immer genug Menschen, um in der Menge untertauchen zu können und wenn es doch einmal zu wenig sind, kann man sofort wieder durch eine Nebenstraße verschwinden. Im Gegensatz zu den meisten dieser Gässchen sind die um den Markt herum stets sauber und hell. Man könnte sie sogar als einladend bezeichnen. Insgesamt ist die ganze Gegend relativ einladend, was mich immer wieder dazu bewegt, auch hinzugehen, wenn ich nichts Bestimmtes brauche, einfach nur, um den Leuten, bei denen ich das Meiste kaufe, einen Besuch abzustatten. 

Aber als ich dort angekommen bin, sehe ich zuerst eine große Menschentraube. Die Leute, vor allem sind es Männer, drängen sich bis in die Seitenstraßen. Was ist los? Ich versuche, weiter nach vorne zu kommen, da man mit knapp 1,70 Metern nicht allzu viel sehen kann, wenn um einen herum lauter große Männer stehen. Ich kann schon fast einen Blick auf das Spektakel erhaschen, als ich eine große Hand auf meiner Schulter spüre. Sie ist kalt. Ich drehe mich um und schaue in das grinsende Gesicht eines Mannes, den ich nicht kenne. Ich zucke zusammen und will mich losreißen, doch er lässt mich nicht los. Hier in der Menge kann ich auch nicht wegrennen. Panik überkommt mich. "Keine Angst, ich tu dir nichts", sagt der Mann. "Aber wenn du nicht tagelang Albträume haben möchtest, verschwindest du jetzt am besten so schnell wie möglich." Ein Schauer läuft mir über den Rücken. "Was ist denn da vorne?", frage ich. "Eine der Gangs", sagt der Mann. Und das reicht mir aus, um meine Beine in die Hand zu nehmen. Ich schlängele mich zurück, sobald ich aus der Menge heraus gekommen bin, renne ich los.

Als ich die Wohnungstür öffne, ist wie immer alles still. Ich stelle meine Tasche ab und gehe geduckt ins Schlafzimmer, denn ich habe nicht vergessen, was Herr Fatcher mir geraten hat. Mein Vater liegt da und schläft, er sieht genauso aus wie heute Morgen. Auch meine Mutter liegt noch im Bett, der Teller, auf dem sich inzwischen nur noch Krümel befinden, steht auf ihrem Nachttisch. Aber sie schläft. Ich richte mich auf, da die Fenster verdeckt sind und küsse sie sanft auf die Wange. Sofort schlägt sie die Augen auf. "Hallo, Schatz. Ist es denn schon Nachmittag?", fragt sie verwundert. Ich schüttele den Kopf. "Gerade mal halb elf. Hat man euch keine Nachricht zukommen lassen?", frage ich. "Was für eine Nachricht?" Dann erkläre ich ihr alles selber, allerdings ohne allzu ausführliche Details über das Gespräch mit Herrn Fatcher oder das Ereignis auf dem Marktplatz. Spontan entscheide ich, es ganz rauszulassen. Später stellt sich heraus, dass sich die gesamte Nachricht in unserem Briefkasten befand.

Meine Mutter springt, sobald ich mit meinem Bericht geschlossen habe, auf und zieht die Gardinen in der gesamten Wohnung zu. Zugegeben, das war nicht so viel Arbeit. Und dann, zur Feier des Tages, backt sie mir einen Kuchen.

Lera LinchWhere stories live. Discover now