4. Kapitel

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Wenn ich ins Bett gehe, sollte ich eigentlich froh sein. Und erleichtert. Ich habe einen weiteren Tag überstanden. Aber das heißt, ich muss den morgigen auch überstehen. Und manchmal habe ich abends das Gefühl, dass ich es keine weitere Sekunde aushalten kann. Aber für Nathan mache ich weiter. Weil er es nicht ertragen hätte, dass ich vor ihnen so viel Angst habe, dass ich es nicht weiter aushalte, hier zu leben. Und meine Eltern. Für sie will ich stark sein. Auch wenn es manchmal so schwer fällt.

Als ich am Morgen aufwache und auf meinen Wecker schaue, dessen Glas schon vor Jahren zersplittert ist, zucke ich vor Schreck zusammen. Halb Acht! Ich muss eigentlich schon längst aus dem Haus sein! Wenn ich mich jetzt beeile, schaffe ich es vielleicht noch, pünktlich zu sein. Dann fällt es mir wieder ein. Ich habe alle Zeit der Welt. Die Frage ist, ob Herr Fatcher daran gedacht hat, mir das Zeug vorbeizubringen. Ich schnappe mir einen Pullover, ziehe ihn über mein hellgraues Nachthemd. Der Briefkasten ist zwar auf der Straße, aber mir wird schon niemand auflauern. Jedenfalls nicht um diese Uhrzeit. Oder? Ich schleiche leise durch den Flur, um niemanden aufzuwecken.

Mal wieder hat Herr Fatcher an alles gedacht. Die Schulsachen liegen direkt vor der Wohnungstür, in einem ordentlichen Päckchen. Ich lächele in mich hinein. Die Sache mit mir scheint ihm ja wirklich am Herzen zu liegen. Dann erst fällt mir ein, dass die Haustür immer abgeschlossen ist, jedenfalls von außen. Das hier lag aber eindeutig hier drin. Wie ist er hier reingekommen? Wahrscheinlich  will ich das aber gar nicht wissen.

Es dauert nicht lange, bis ich die Sachen erledigt habe. Vielleicht hat Herr Fatcher recht damit, dass ich klug sei. Wahrscheinlich hat er mir aber extra weniger Sachen mitgebracht, als die Anderen machen müssten. Ich sollte mich freuen. Aber mit diesen Aufgaben konnte ich mir immerhin die Zeit vertreiben. Denn jetzt muss ich die Zeit irgendwie anders totschlagen. Bis meine Eltern aufstehen. Selbst wenn sie wach sind, sind sie eine relativ schlechte Beschäftigung, aber ich kann mich immerhin unterhalten. Um nicht vor Langeweile zu sterben hole ich mir ein Blatt Papier und einen Bleistift. Lustlos fahre ich mit dem Stift umher, ich schaue nicht einmal auf das Papier. Stattdessen beobachte ich einen Marienkäfer, der sich irgendwie hier hereinverirrt hat. Er schwirrt unruhig umher, summt ein bisschen. Ich überlege kurz, das Fenster auszumachen und ihn rauszulassen, letztendlich ist es mir zu mühsam. Sterben muss das Vieh sowieso irgendwann, so schlimm ist es hier auch nicht.

Ohne dass ich es bemerkt habe, ist die Form eines Gesichts entstanden. Ich halte es einen Meter von mir entfernt. Es sieht ein wenig aus wie Nathans Gesicht geformt war. Ich will gerade los gehen, um das Bild von der Kommode zu holen. Dann halte ich in der Bewegung inne. Ich bin perfektionistisch, ja, aber plötzlich verspüre ich den furchtbaren Drang, ihn einfach aus der Erinnerung zu zeichnen. So, wie ich ihn das letzte Mal lebend gesehen habe.

Ich habe immer viel von meinem Gedächtnis gehalten. Und ich hätte gewettet, dass ich Nathan aus der Erinnerung zeichnen kann. Allerdings sieht der Junge, der mich auf dem Papier anlächelt nicht aus wie er. Überhaupt nicht. Nicht einmal seine Nase konnte ich ordentlich zeichnen, dabei sieht sie genauso aus wie meine eigene. Frustriert zerreiße ich das Blatt und werfe es in den Papierkorb. Ich will Nathan zurück! Dabei weiß ich, dass ich klinge wie ein Kleinkind. Aber es ist nun einmal mein innigster Wunsch. Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, werde ich ihn wiedersehen. Wahrscheinlich sogar ziemlich bald. Aber ich möchte ihn lebend vor mir stehen haben und einfach so tun können, als wäre nichts je geschehen. Warum musste ich hier geboren sein? Es gibt so viele Staaten, in denen es friedlich ist. In denen ich ungestört mein Leben leben könnte. Ich könnte vor mich hin leben, ohne jemandem aufzufallen. Ich würde glücklich werden. Vielleicht nicht komplett, denn wahrscheinlich wäre ich völlig allein, aber glücklicher als ich jetzt bin.

"Was ist denn los, Schätzchen?" Meine Mutter steht plötzlich in der Tür. Ich zucke zusammen und spüre, wie ich rot werde. "Was soll denn los sein?", frage ich scheinheilig. "Du hast irgendetwas unverständliches gerufen, Lera, aber es klang nicht gut", erzählt sie und schaut mich dabei mitfühlend an. "Ähh", stottere ich. Wie erklärt man, dass man in einer Fantasiesprache die Wohnung zusammengeschrien hat? Gar nicht. Ich sollte das Thema wechseln. "Hab ich dich geweckt, Mama?", frage ich immer noch verwirrt. Sie schüttelt den Kopf. "Ich war schon eine Weile wach. Papa schläft auch noch, keine Angst", fügt sie hinzu. Ich deute ein Lächeln an. "Na dann bin ich ja beruhigt." Ich zwinkere ihr zu. Sie will sich gerade zum Gehen wenden, als sie es sich doch anders überlegt. Wie hartnäckig Eltern doch sein können. "Ich aber nicht, Lera. Was war denn los?" Sie nimmt meine Hand und geht mit mir zum Sofa. Sie setzt sich hin und bedeutet mir, das Gleiche zu tun. "Ach, gar nichts", murmele ich. Sie streicht mir durch die Haare. "Ich weiß doch, dass was war, Lera. Ich bin deine Mutter." Sie zieht mich an sich und ich höre ihren ruhigen Herzschlag. "Du musst es mir natürlich nicht erzählen", sagt sie, als ich weiterhin schweige. Ich will sie nicht enttäuschen. Ich will nicht, dass sie denkt, ich würde ihr nicht vertrauen. "Es ist nur... ich vermisse ihn", sage ich in ihr Nachthemd herein. Ich versuche, die Tränen zu unterdrücken, weil meine Mutter dann genauso anfangen wird, zu weinen. "Ich auch, Schätzchen, ich auch", murmelt sie und fährt mir weiter durch die Haare. "Ich wünschte, wir würden woanders leben", redet sie weiter. "Ganz woanders. Es würde mir reichen, wenn ich wüsste, dass es dir gut geht und du sicher bist." "Aber ohne euch könnte ich nirgendwo wirklich glücklich sein", wende ich ein. Sie spricht mir manchmal wirklich aus der Seele. Ob sie das wohl weiß? "Ich hab dich lieb, Lera", sagt meine Mutter nur,"und ich würde alles für deine Sicherheut geben."

Als ich anfange, zu weinen, weiß ich nicht, ob es Tränen der Trauer, der Rührung oder der Freude, geliebt zu werden sind.

Lera LinchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt