9. Kapitel

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Der Flur stinkt immer noch. Ich versuche, irgendetwas Gutes in ihm zu entdecken. Aber die teilweise abgerissenen Plakate von Veranstaltungen, die schon längst stattgefunden haben, um deren Ankündigungen sich aber niemand mehr gekümmert hat, sind nicht schön. Auch die Tatsache, dass Papa hier gestorben ist, ist nicht förderlich. Deshalb bin ich froh, als ich auf der Straße stehe, auch wenn ich fast in eine Pfütze voller Kotze getreten wäre.

Herr Fatcher wartet schon auf mich. Er begleitet mich immer noch zum Training, obwohl es ihm eigentlich nicht mehr in den Zeitplan passt. Ich bin ihm so wichtig, etwas, das ich nicht verstehen kann.

"Hey, Lera, wie läuft's?", sagt mein Ex-Lehrer freundlich. Diese Begrüßung ist über die Monate zu unserer kleinen Tradition geworden, es hat etwas Sicheres, das mir die Anspannung nimmt. "Läuft gut", erwidere ich lächelnd. "Bei Ihnen?" "Sag doch Du zu mir, Lera", meint er freundlich, "ich bin ja nicht mehr dein Lehrer. Und nebenbei läuft es gut bei mir." Genauso wie die Begrüßung gehört zu unserer kleinen Tradition, dass wir nach der anfänglichen Unterhaltung nicht mehr groß miteinander sprechen. Deshalb bin ich auch so verwundert, als Herr Fatcher mich nach erst einem Drittel der Strecke wieder anspricht.

"Wie geht es deiner Mutter, Lera?", fragt er beiläufig. Ja, wie geht es meiner Mutter? Ich lächele ihn schüchtern an. "Ich denke, ganz gut", sage ich. "Den Umständen entsprechend halt." Er nickt. "Das freut mich sehr für sie und für dich." Ich neige den Kopf. "Vielen Dank. Wie ist es in der Schule? Vermissen sie mich dort?" Er lächelt gequält. "Sei ehrlich!", füge ich hinzu, duze ihn wirklich einmal. "Na gut. Deine Klasse hat wie selbstverständlich angenommen, du seist tot, Lera. Also haben sie, als du eine Woche lang unentschuldigt gefehlt hast, ein paar Worte zu dir gesagt. Dann war die Sache mehr oder weniger gegessen. Die Lehrer haben nicht einmal in meiner Gegenwart ein Wort zu dir verloren. Ich hatte auch wenig Lust, sie darauf aufmerksam zu machen, dass du nach einem Besuch in meinem Büro nicht mehr in der Schule gesehen wurdest, also habe ich es einfach hingenommen und die Klappe gehalten, auch wenn ich es wirklich nicht gern getan habe."

Ich nicke. "Das ist schon okay so. Mir ist es lieber, sie reden nicht über mich und es fällt ihnen nicht auf, dass ich tot", bei diesem Wort male ich mit meinen Fingern Anführungszeichen in die Luft, "bin, als dass sie sich die ganze Zeit fragen, ob Sie... ähh, du mein Mörder bist, denn das ist ja nicht der Fall." Er zwinkert mir mit einem verschmitzten Lächeln auf den vollen Lippen zu. Danach ist unser Gespräch beendet.

"Hey, Jake", sage ich, bemüht, freundlich zu klingen, als Herr Fatcher das Tor der alten Scheune aufstößt. Jake steckt den Kopf aus der Tür, mit der Andeutung eines Lächelns im Gesicht. "Hallo, Lera. Alles klar?" Ich nicke. "Ja, denke schon." Soweit es alles klar sein kann. Vieles ist mir nicht klar, aber Jake ist schließlich weder mein Psychologe noch mein allerbester Freund, weshalb sollte ich mich bei ihm ausheulen? Er ist mein Trainer, nicht mehr. Ich weiß nichts über ihn und so sollte es auch bleiben.

Herr Fatcher verabschiedet sich und wir sind allein. Jake findet, dass man sich vor dem großen Sport nicht aufwärmen muss, aber seit einiger Zeit neigt er dazu, sich vorher mit mir zu unterhalten. Was ich gerne noch trainieren würde, fragt er mich. Ich finde die Formulierung seltsam, aber da ich weiß, dass Jake auf meiner Seite ist, nehme ich an, Jake fragt einfach nur und benutzt das noch nur zur Unterstützung seiner Frage.

Durch die Ritzen zwischen den Brettern der Scheune dringt bereits viel Licht, als Jake mir eine Pause erlaubt. Ich setze mich auf eine der alten Holzkisten und er setzt sich auf die neben meiner. Normalerweise stellt er sich in eine Ecke und raucht eine Zigarette, die er sich zu hundert Prozent illegal verschafft hat. Doch heute bleibt die Zigarette in seiner ausgebeulten Hosentasche.

Jake sagt nichts, er schaut mich einfach an. Ich schaue zurück. Seine braunen Augen haben graue und grüne Sprenkel, das ist mir noch nie vorher aufgefallen. Ich frage mich, wie oft ich Jake noch treffen werde. Ich will nicht gehen, ohne mich bei ihm zu bedanken. Vielleicht sollte ich das jetzt tun. Im Augenwinkel nehme ich eine Bewegung war.

Sofort bin ich im Gejagt-Modus. Ich fahre herum, doch die Schatten sind reglos. War wahrscheinlich nur eine Maus oder so etwas. Ich muss dringend aufhören, so schreckhaft zu sein.

"Jake?", frage ich vorsichtig. Er hebt die Augenbrauen, um mir zu sagen, dass er mir zuhört. "Jake, ich weiß zwar nicht im Geringsten, wer du eigentlich bist, aber du bist es, der mir das alles beigebracht hat. Vielleicht wird es mir im entscheidenden Moment nichts nutzen, aber in den letzten Monaten habe ich mich viel sicherer, viel freier und besser gefühlt." Er nickt.

"Ich habe mich immer auf die Vormittage mit dir gefreut, es hat immer Spaß gemacht. Du hast mir geholfen, zu erkennen, dass ein langes Leben nicht alles ist. Auch ein kurzes ist toll, wenn man die richtigen Menschen hat und glücklich ist. Danke, dass du mich wieder glücklich gemacht hast. Du bist mein Held."

Er nickt. Er lächelt. Er steht auf. Er öffnet seine Hosentasche. Er zieht einen Revolver hervor. Er lächelt immer noch. In seinen Augen ist es kein gutes Lächeln mehr. Es ist ein diabolisches.

Aus dem Schatten treten zwei Männer. "Na wollen wir mal sehen, was du gelernt hast, Lera, nicht?", sagt einer von ihnen. Ich kenne diese Stimme.

Lera LinchWhere stories live. Discover now