2. Kapitel

46 14 4
                                    

Die Schule ist ein hässliches graues Gebäude in Würfelform. Ich hasse sie. Wenn ich könnte, würde ich einfach zu Hause bleiben. Ich gebe nichts auf Bildung. Ich bezweifle, dass ich am Leben gelassen würde, weil ich die Planeten des Sonnensystems in richtiger Reihenfolge aufsagen kann. Selbst wenn das so wäre, hätte ich schlechte Chancen, lebend wieder rauszukommen. Aber ich muss zur Schule. Erstens, weil es meine Eltern wollen. Zweitens, weil meine Eltern Geld dafür bezahlen. Und drittens, weil es das einzige Gesetz ist, was jeder einhält. In die Schule sind alle gegangen, und die, die das Geld dafür haben, gehen auf meine Schule. Ich habe den Unterschied zwischen der normalen Schule und meiner nie verstanden, außer, dass die Lehrer hier strenger sind. Aber ich will meine Eltern auf keinen Fall enttäuschen.

Auf den Fluren sind noch kaum Schüler unterwegs. Die wenigen verhuschten Gestalten, die versuchen, so wenig wie möglich aufzufallen, beachte ich kaum. Meine Schritte schmatzen auf dem sich schon aufbäumenden Plastikboden. Hinter mir öffnet sich die Eingangstür und eine Gruppe Mädchen strömt herein. Sie unterhalten sich angeregt und lachen laut. Ich kann sie nicht verstehen. Wie können sie, wenn sie jederzeit von Serienmördern geschnappt werden könnten, lachen und laut reden? Ich glaube, sie gehen in meine Klasse. Ohne mich weiter um sie zu scheren schlurfe ich weiter zum Klassenraum. Wenn ich etwas gelernt habe, dann dass ich mich um andere Leute nicht kümmern sollte. Ich bin inzwischen anderen Menschen gegenüber kalt. Solange ich sie nicht kenne, können sie mir nicht weh tun, ich auch nicht ihnen. Und Menschen wie diese brauche ich sowieso nicht in meinem Leben.

Obwohl es erst halb acht Uhr morgens ist, ist unser Klassenraum schon völlig überheizt. Die Fenster sind zu und der Geruch von Chemikalien hängt in der Luft. Ich setze mich stumm auf meinen Platz und ziehe die Jacke aus. Die Fenster öffnen will ich nicht, ich will keine Aufmerksamkeit erregen. Selbst mein Banknachbar könnte mein potenzieller Mörder sein. Obwohl ich das bei der Dummheit desselben bezweifle.
Die Tür öffnet sich und die Mädchen kommen herein, immer noch laut lachend. Ich schaue schnell in eine andere Richtung, aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie sich hinsetzen. Es ist kurz nach halb acht und ich hoffe inständig, dass bald unser Lehrer kommt und sie zum Schweigen bringt.

Herr Fatcher ist eigentlich ganz nett. Er hat einen halbwegs guten Humor, für einen unserer Lehrer ein wahrer Komiker. Aber er ist fürchterlich autoritär. Obwohl alle wissen, dass er nie die Schulordnung abschreiben lässt oder ähnliches, sind sie ruhig. Ich glaube, dass liegt an seiner Art, zu gehen. Er läuft unglaublich aufrecht und schaut immer nach vorne. Auch wenn man ihn auf dem Flur begrüßt oder hinter ihm geht und ihm eine Frage stellt, er schaut immer nach vorne. Außerdem liegt es wohl an der nervigen Angewohnheit, alle seine Schüler mit Nachnamen anzusprechen. Ich hasse das, weil ich meinen Nachnamen hasse. Linch. Er klingt nicht schön. Linch klingt wie Lunch. Vielleicht bin ich auch nichts anderes als Lunch. Jedenfalls für denjenigen, der mich am Ende töten wird.

Herr Fatcher öffnet die Tür und kommt langsam in den Klassenraum, sofort ist alles ruhig. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Mir fällt auf, dass mein Banknachbar nicht gekommen ist. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Eigentlich komisch, dass ich mich jetzt um ihn sorge, wo ich ihn schon fast ein ganzes Jahr ignoriert habe.
Herr Fatcher ist jetzt am Lehrertisch angekommen und seine schwarze Ledertasche darauf gestellt. Sofort erheben wir uns und als er uns einen guten Tag gewünscht hat, antworten wir genauso. Herr Fatcher bedeutet uns, stehen zu bleiben, was mein ungutes Gefühl noch weiter bestärkt. "Als ihr vor fast einem Jahr hier eingeschult wurdet, als Neuntklässler, da wart ihr 23. Ich muss euch leider erzählen, dass man Gabriels Leiche gestern im Wald außerhalb der Stadt gefunden hat. Wir gedenken ihm und er wird immer in unseren Herzen sein." Ich schnappe nach Luft. Ich mochte Gabriel nicht. Ich habe ihn auch nicht gehasst. Ich kannte ihn einfach nicht. Aber in diesem Moment bin ich so sehr von Trauer erfüllt wie ich es nur war, als man Nathans Leiche fand. Gabriel hat ein Loch hinterlassen. Jetzt wird niemand mehr neben mir sitzen. Niemand wird mehr blöde Fragen stellen, über die ich im Inneren lache. Niemand wird mich mehr fragend anschauen und versuchen, zu ergründen, wieso ich so bin, wie ich bin. "Lera, als seine Banknachbarin möchte vielleicht noch etwas von ihm sagen?", fragt Herr Fatcher. Er hat mich Lera genannt. Nicht Fräulein Linch. Während sich die anderen setzen, gehe ich mit zitternden Schritten nach vorne. Was soll ich sagen? Meine Unterlippe zittert leicht. Meine Hände werden schwitzig. Ich habe noch nie so vor der Klasse gesprochen, ohne dass ich genau wusste, was ich sagen würde. "Äh...", stammele ich. Soll ich die Wahrheit sagen? Oder mir etwas anderes ausdenken? "Gabriel war ein Einzelgänger", stottere ich. Ich schüttele den Kopf. "Ich kann das nicht. Tut mir leid, Herr Fatcher." Er nickt mitfühlend. "Schon okay, Lera", sagt er. Ich setze mich auf meinen Platz. Neben mir wird mich nie mehr jemand fragend anschauen.

"Fräulein Linch?", höre ich Herrn Fatchers Stimme. Verdammt, ich habe nicht aufgepasst. Verzweifelt sehe ich auf. "Äh... Ja?" "Kannst du uns die Antwort auf unsere Frage liefern?" Ich nicke schnell und fange an, wie wild in meinem Heft zu blättern. "Warten Sie", sage ich. Mir bricht der Schweiß aus. "Du hast nicht aufgepasst, oder?" Ich nicke schüchtern. "Was ist der Grund?", fragt er und jedes Mitgefühl in seiner Stimme ist verschwunden. Mir ist klar, dass ich mit Gabriel nicht mehr kommen kann. "Ehm....", stottere ich,"mein Bruder ist vor 12 Monaten und einem Tag ermordet worden", flüstere ich und ich spüre, wie mir die Tränen kommen, wie immer, wenn ich laut ausspreche, was mit Nathan passiert ist. 12 Monate und ein Tag wirkt in Reius wie ein Zauberwort. Ich weiß nicht, warum es wichtiger ist als das volle Jahr, aber 12 Monate und ein Tag ist der Tag, an dem man wirklich trauern darf.
Ich spüre die Blicke der gesamten Klasse auf mir ruhen. "Nathan Linch. Ja ich kannte ihn", murmelt Herr Fatcher. "War ein kluger Junge. Ich war auf seiner Beerdigung." Bei der Erinerrung an Nathans Beerdigung rollt eine Träne über meine Wange.

Lera LinchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt