5. Kapitel

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Der restliche Tag lässt sich mit einem Wort beschreiben: Langeweile. Ich sitze einfach herum und starre aus dem Fenster. Ich warte. Ich weiß nicht, worauf ich warte. Vielleicht warte ich darauf, dass sie endlich kommen und mich töten. Vielleicht auch nur auf morgen. Oder darauf, dass Nathan kommt und mich rettet. Darauf, dass ich aufwache und merke, dass ich ein ganzes Leben geträumt habe. Aber träumt man davon, zu merken, dass alles nur ein Traum ist?
Ich glaube nicht. Und man träumt auch nicht davon, dass man einen anderen Traum träumt, der nur Teil des eigentlichen Traums ist.

Am nächsten Morgen wache ich schon lange vor meinen Eltern auf. Es ist kaum halb sechs. Aber ich kann nicht einschlafen. Ich leide schon länger an Schlafstörungen. Inzwischen ist es wieder ein wenig besser, doch wenn ich einmal aufgewacht bin, kann ich eigentlich nie wieder einschlafen. Ich höre, wie jemand die Tür aufsperrt. Die schweren Schritte und das laute Keuchen weisen auf meinen Vater hin. Die Schritte werden immer lauter. Obwohl ich weiß, was mich erwartet, zucke ich zusammen, als mein Vater meine Zimmertür öffnet. Er trägt noch immer seine groben schwarzen Schuhe und die dicke dunkelgrüne Jacke, die ihn immer aussehen lässt wie einen Waldarbeiter. Er sieht mich lange schweigend an, wie ich da angespannt und genauso aufrecht in meinem Bett sitze. Ich starre zurück. "Du darfst nicht alles so negativ sehen, Lera. Werde positiver", sagt er. Ich meine, seine Stimme schwächer werden zu spüren. Verwirrt nicke ich. Kurz schließe ich die Augen, um mir die Situation noch einmal in Erinnerung zu rufen. Als ich wieder aufschaue, ist mein Zimmer leer. Das Einzige, was mich davon abhält, zu glauben ich hätte geträumt ist sein lautes Stampfen auf dem Flur.

Positiver denken. Wie denkt man positiv, wenn Nathan nicht mehr da ist? Eigentlich ist das unmöglich. Und was wollte Papa damit eigentlich bezwecken? Ich meine, er kam um halb sechs nach Hause. Eine halbe Stunde zu spät. Und dann geht er in mein Zimmer, sagt mir, ich solle positiv denken und geht wieder. Ich habe die Tür ins Schloss fallen hören. Er ist wieder rausgegangen. Wo ist er hin gegangen? Warum hat er das getan? Dass ich positiver denken soll, hätte er mir doch auch heute Nachmittag sagen können? Das passt nicht zu ihm. Er macht so etwas nicht. Er ist der einzige von uns, der nach Nathans Tod halbwegs den Kopf bewahrt hat. Was führt ihn dazu, mir so etwas, das auch nicht zu ihm passt, jetzt zu sagen? Langsam beschleicht mich das Gefühl, dass er in Gefahr schwebt.

Ablenkung. Ich brauche Ablenkung. Zuerst fallen mir Herrn Fatchers Aufgaben ein. Aber dann fällt mir ein, dass diese auf dem Treppenhaus liegen. Und weil ich immer noch Angst habe, dass dort auch mein Vater liegt, kann ich diese Idee streichen. Das Zeichnen hat mich gestern wirklich deprimiert, also möchte ich das auch nicht tun. Und dann bleibe ich einfach im Bett liegen und starre an die Decke. Die Decke ist hässlich. An einigen Stellen sieht man den Schimmel und insgesamt wirkt es einfach dreckig. Ich stöhne einmal laut auf, dann schließe ich die Augen.

Meine heutigen Schulaufgaben liegen im Flur. Nicht ganz so geordnet wie gestern, aber alles vollständig. Irgendjemand muss hier drin gewesen sein. Aber da ich weiß, dass Herr Fatcher nichts Böses im Schilde führt, gehe ich auch nicht davon aus, dass die Methode, wie er die Sachen hier hereintransportiert hat, irgendjemandem geschadet hat. Ich hoffe das jedenfalls, denn ich will nicht irgendwelchen Schaden anrichten. Das habe ich in meinem Leben schon oft genug getan.

Mathe. Ich habe das Gefühl, dass Herr Fatcher der Meinung ist, mich besonders fordern zu müssen. Dass die anderen Idioten, die sich der Gefahr in der sie schweben immer noch nicht bewusst sind auch nur den Ansatz meiner Aufgaben verstehen könnten, bezweifle ich jedenfalls ernsthaft. Zumindest geht die Zeit heute etwas schneller rum.

Und so kommt es, dass ich immer noch über den Aufgaben brüte, als meine Mutter ins Zimmer kommt. Sie wirkt ganz außer Atem und ihr Nachthemd ist eng an ihrem Körper, obwohl es ihr eigentlich zwei Größen zu groß ist. "Hast du Papa gesehen, Lera?", fragt sie und mit jedem Wort wird ihre Stimme höher und schriller. "Heute Morgen um halb sechs. Dann nicht mehr", stottere ich verwirrt. Das mulmige Gefühl in meinem Magen nimmt zu. "Ist er nicht bei dir?" Sie schüttelt den Kopf. Ich sehe die Panik in ihren Augen, obwohl ich mehrere Meter von ihr entfernt sitze. "Oh, verdammt", flüstert sie leise. Ich zucke zusammen. Meine Mutter flucht nie. Sie mag nicht so wirken, aber eigentlich ist sie streng gläubig. Dabei ist sie nicht einmal getauft oder irgendwas in der Art. Sie hat einfach nur einen unerschütterlichen Glauben an Gott, den ich nicht nachvollziehen kann. Gott gibt es nicht. Es kann Gott nicht geben, wenn er so etwas wie Reius zulässt. Das kann einfach nicht sein.

Wir beide sitzen Arm in Arm da, zittern vor Angst und hoffen einfach, dass wir uns irren. Aber irgendetwas sagt mir, dass es nicht so ist. Vielleicht habe ich mich auch doppelt geirrt. Meine Zähne klappern. "Alles wird gut, Schätzchen", sagt meine Mutter mit zitternder Stimme. Ich nicke, weil Widerspruch auch nicht hilft.

Es klopft an der Tür. Meine Mutter, in den Augen den Blick gehetzten Wildes, schiebt mich sanft von ihrem Schoß und geht mit trippelnden Schritten zur Tür. "Wer ist da?", ruft sie vorsichtig. "Lexis, ihr Nachbar", ertönt eine tiefe laute Stimme. "Was möchten Sie?", fragt meine Mutter knapp. Ihre Stimme wird fester, aber sie ist immer noch misstrauisch. "Hier auf der Treppe liegt jemand", erzählt der Mann. Mein Herz bleibt stehen. Ich sehe, wie die Knie meiner Mutter nachgeben. "Wer?", presst sie heraus, schon halb auf dem Boden liegend. "Es tut mir sehr leid, Frau Linch, aber ich befürchte, es ist ihr Mann." Die Stimme klingt tatsächlich, als bedauere sie den Umstand. "Was ist mit ihm?", rufe ich nun, da das Gesicht meiner Mutter bereits tränenüberströmt ist. Eine kleine Pause. "Frau Linch. Er ist tot."

Lera LinchWhere stories live. Discover now