6. Kapitel

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Oh wie ich Trauerfeiern hasse. Diese ganzen Menschen sehen zu müssen, diese ganzen Menschen, die mir mit bemitleidendem Gesichtsausdruck die Hand schütteln und mir sagen, wie leid es ihnen tue. Sie sehen mich komisch an. Weil ich nicht weine. Sie denken, wer seinen Vater verliert, muss automatisch in Tränen ausbrechen. Aber den Fehler habe ich schon bei Nathan gemacht. Ob seine  Mörder meine Tränen wohl gesehen haben? Hat es sie gefreut? Belustigt? Den Triumph gönne ich ihnen nicht noch einmal.

Mein Blick wandert herunter auf meinen Handrücken. Werde positiver habe ich darauf geschrieben. Mit Kugelschreiber. Ob das seine letzten Worte waren? Vielleicht hat er mir seine letzten Worte gewidmet.

Ein Schatten verdunkelt die ungelenke Schrift. Ich blicke hoch und schaue in ein fremdes, makeupverschmiertes Gesicht. Die blond gefärbten Haare glänzen, wahrscheinlich hat die vor mir stehende Frau irgendetwas reingesprüht. "Du musst Jasons Tochter sein, was? Oh, du armes Ding. Wie heißt du denn?", fragt sie mit ihrem pseudobesorgten Gesichtsausdruck. "Lera", murmele ich. "Wie?" Sie hält sich eine behandschuhte Hand an ihr Ohr. Als ob ich genauso taub wäre wie sie. "Lera", sage ich lauter, obwohl es mir nicht gefällt, so laut zu sprechen. "Vera. So ein toller Name. Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, Vera. Es tut mir ja so leid. Erst dein Bruder und jetzt Jason. Ihr habt wirklich Pech." Ich beiße mir auf die Lippe und verzichte darauf, sie auf meinen Namen hinzuweisen, den sie schon wieder falsch verstanden hat. Ich bringe ein danke über die Lippen und bin erleichtert, als sie weitergeht.

Die Erwähnung von Nathan hat mich fertig gemacht. Ich wollte nicht an ihn denken. Das hier ist Papas Trauerfeier. Und so hart das auch klingt, Nathan ist nun einmal schon tot. Und ich finde es, so sehr ich Nathan auch vermisse, nicht fair, dass er auf Papas Trauerfeier immer noch irgendwie im Mittelpunkt steht.

Ein schwarzgekleideter Mann schreitet langsam durch den kleinen Raum, der gefüllt von Menschen ist. Menschen, die Abschied nehmen wollen. Der Mann stellt sich hinter das Rednerpult und beginnt mit tiefer Stimme zu sprechen. Die Stimme beruhigt mich irgendwie, sie gefällt mir. So eine Stimme habe ich noch nie gehört. Sie klingt wie der Regen, der nachts auf mein Fenster prasselte, als Nathan noch lebte.

Als der Mann geendet hat, gibt es verhaltenen Applaus. Ehrlich gesagt habe ich aus der Rede mehr über Papas Leben erfahren als ich erahnen konnte. Nachdem sich der Applaus gelegt hat, tritt der Mann ganz nah an das Mikrofon heran und sagt leise. "Jetzt, nachdem ich geredet habe, werden noch einige Personen, die Jason Linch sehr wichtig waren, etwas erzählen. Ich möchte zu allererst seine Tochter nach vorne bitten. Lera Linch." Mit zitternden Beinen stehe ich auf. Meine Hand fasst in die Tasche meines unbequemen Rocks und umfasst den bereits zerknitterten Zettel. Nicht weinen, ich darf nicht weinen. Ich werde nicht weinen. Ich habe in meinem Leben zwei Mal geweint, als Nathan gestorben ist und vor einer Woche. Und es wird kein drittes Mal folgen.

Kleine Schritte mache ich zum Rednerpult. Als ich die schrille Stimme höre, zucke ich, sicher nicht unauffällig, sofort zusammen. Ich fahre herum und sehe die Frau von eben. "Vera, sie heißt Vera!", ruft sie, hat sich von ihrem Stuhl erhoben. Mein Blick und der des Redners treffen sich. Ich schüttele kurz den Kopf und forme Lera mit dem Mund. Der Redner nickt und so bleibt der Einspruch unkommentiert.

Ich streiche den karierten Zettel, der inzwischen auf dem Pult liegt, glatt und versuche, möglichst professionell zu wirken. Ich fahre durch mein Haar und dann fange ich an, die Worte auf meinem Zettel zu entziffern.

"Vor einer Woche, am Tag, an dem mein Vater gestorben ist, lag ich früh morgens in meinem Bett und dachte nach, als ich seine Schritte hörte. Kurz darauf kam er in mein Zimmer, starrte mich lange an und sagte mir: 'Du darfst nicht alles so negativ sehen, Lera. Werde positiver.'" Das L meines Namen spreche ich besonders deutlich aus und schaue währenddessen die Handschuhfrau an, die offenbar dringend Hörgeräte braucht. "Er hatte noch seine Jacke und Schuhe an. Und als er das gesagt hatte, machte er meine Zimmertür hinter sich zu. Ich habe gehört, dass er zurück ins Treppenhaus gegangen ist. Dort, wo man ihn wenig später tot fand." Ich nicke Herrn Lexis zu, der uns die Nachricht überbracht hat. "Wissen Sie, was ich dann gemacht habe?" Ich mache eine Kunstpause. Mein Körper spannt sich an, Wut steigt in mir auf. "Ich habe meine Schulaufgaben gemacht. Denn wer auch immer meinen Vater im Treppenhaus hat verbluten lassen hat, er hat es nicht verdient, dass seine Taten die Auswirkungen haben, die er sich wünscht. Wenn du das hier hörst, Mörder, dann hör das hier auch. Ich weiß, dass ich geboren bin, um von dir umgebracht zu werden. Ich weiß, dass meine Zeit abläuft. Aber ich werde meine Zeit, die mir noch bleibt, nicht damit verbringen, vor dir Angst zu haben. Wir sehen uns", rufe ich mitten ins Publikum. Ich knülle den Zettel wieder zusammen und stopfe ihn in meine Rocktasche. Niemand applaudiert. Niemand sagt auch nur ein Wort. Niemand hat das erwartet. Ich auch nicht. Eigentlich wollte ich über Papa reden. Aber ich bin ausgerastet. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe meine Zeit verkürzt. Denn eigentlich habe ich gelogen. Ich habe Angst vor meinem Tod. Viel zu viel Angst. Aber die Angst verstecke ich hinter Hass. Hass ist leichter. Hass verschafft Respekt. Respekt verschafft mir Schutz.

Draußen regnet es. Der Redner verabschiedet sich von uns allen. Ich wünschte, ich hätte seine Stimme in einem anderen Zusammenhang gehört. Plötzlich ist eine Hand auf meiner Schulter. Vor Schreck bin ich wie erstarrt. Langsam drehe ich mich um. Und sehe in Herrn Fatchers Gesicht. Ihn hatte ich gar nicht gesehen. "Ich glaube, Lera, wir sollten dich trainieren, damit du dich wehren kannst", sagt er zwinkernd. Ich nicke. "Sollten wir."

Lera LinchWhere stories live. Discover now