7. Kapitel

24 7 3
                                    

"Los, Lera, gib's ihm! Der bringt dich nicht um. Du bist stark. Stärker als er! Gib alles!" Ich beiße die Zähne zusammen. Ich bin stärker als er. Obwohl er in diesem Fall einer schon veraltenden und mit aufgeplatzten Nähten versehenden Puppe entspricht. Und diese Puppe ist in einer Scheune. Einer Scheune, in der auch ich mich befinde. Und ein junger muskolöser Mann im dreckigen Tanktop, der sich mir als Jake vorgestellt hat. Quer über sein kantiges Gesicht zieht sich eine Narbe, die nicht so aussieht, als hätte man sich groß um die ihr vorausgegangene Wunde gekümmert. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich ihn glatt für einen Bestandteil der Gangs gehalten. Aber kein Mitglied der Gangs, die mir so viel Unheil gebracht haben, würden mir beibringen, wie ich mich gegen sie verteidigen könnte.

Schweiß rennt mir über die Stirn. Heute ist erst mein erster Trainingstag. Herr Fatcher hat mich bereits im Morgengrauen in die dunkle verrottende Scheune gebracht. Ob die Scheune, in der Nathan getötet wurde, auch so aussah?

Ich hielt es für ziemlich riskant, hier her zu gehen, aber Mama war von dem Gedanken nicht abzubringen. Also bin ich gegangen. Ihr zuliebe. Sie weint so viel... ich kann nicht ganz verstehen, wieso. Ja, Papa ist tot, aber war das nicht klar? Irgendwann werden wir alle tot sein. Und Nathan hat den Anfang gemacht. Papa war der Zweite. Jetzt sind von der Familie, die vor anderthalb Jahren noch glücklich zu viert war und ein halbwegs schönes Haus hatte, nur noch zwei übrig. Meine Mutter, völlig zerstört, in Tränen aufgelöst und niemand kann ihr helfen und ich. Und ich gehe nicht mehr in die Schule, trainiere stattdessen in einer verlassenen Scheune mit einem mir völlig fremden Menschen, wie ich mich verteidigen kann und trauere leise, ohne Tränen und niemand merkt es.

Das ist auch gut so. Sie sollen es nicht sehen. Weil ich Lera Linch bin. Und ich darf nicht weinen. Weil ich stark bin. Weil ich Lera Linch bin.

"Woran denkst du denn die ganze Zeit? Huhu, Lera, nicht träumen!", ruft Jake irgendwo in der Ferne. Ich schüttele mich kurz, wie um die melancholischen Gedanken abzustreifen. "Tut mir leid", murmele ich. Jake antwortet nicht. Als ich ihn eine kurze Zeut verständnislos angestarrt habe, seufzt er kurz, dann ergreift er meinen Arm und hält ihn etwas weiter höher. "Der muss höher", erläutert er, "dann hast du mehr Kraft." Ich nicke. Probehalber lasse ich meinen Arm durch die Luft sausen, und Jake hat Recht behalten: Der Schlag fühlt sich kraftvoller an.

"Wie lange... traineren... wir eigentlich.... noch?", keuche ich, als Jake nach einer gefühlten Ewigkeit endlich eine Pause einlegt. Jake hebt seinen behaarten Arm und schaut auf seine schon zerbrochene Armbanduhr. "Jetzt ist es zwölf, Lera. Ich denke, um drei, wenn die Schule bei vielen aus ist, begleite ich dich nach Hause. Ist das okay für dich?" Ich nicke. Solange Jake dabei ist, kann ich mich halbwegs sicher fühlen.

"Jetzt ist aber noch drei Stunden Training!", reißt Jake mich wieder aus meinen Gedanken. Er scheint das selige Lächeln auf meinem Gesicht richtig interpretiert zu haben. Ich lächele verlegen zu Boden.

Jake ist nicht der Typ für großartige Unterhaltungen. Statt auch nur irgendetwas zu antworten, erklärt er mir eine Art Wurf, wahrscheinlich so etwas wie Judo. Mir gefällt das gut. Irgendwie ist das so schön logisch. Ausheben, dann werfen. Der Knackpunkt ist: Den Schwerpunkt brechen. Sonst geht es nicht. "Wie heißt das?", frage ich Jake, als er endlich mit mir zufrieden ist. "Seoi Nage", antwortet er knapp. "Seoi was?" "Nage", meint Jake ganz ruhig. "Is Japanisch. Heißt glaube ich so was wie Schulterwurf." Ich nicke. "Welche Sportart ist das?", frage ich. "Judo." Da lag ich wohl richtig. "Und wo hast du das gelernt?" Er zuckt mit den Schultern. "Nich wichtig", meint er und wendet sich wieder dem Training zu.

Meine Mutter umarmt mich, als ich völlig verschwitzt nach Hause komme. "Da bist du ja, Schatz. Und?", fragt sie. Ich schaue sie irritiert an. Was soll schon sein? Kann sie nicht ihre Frage ausformulieren? Sie schaut mich gespannt an. "Hä?", frage ich. Sie stutzt kurz. "Naja... wie es denn war?", sagt sie etwas irritiert. "Gut", meine ich, genauso verwirrt, "bin nur etwas fertig." "Okay", sagt sie und ich entdecke Tränen in ihren Augen. "Dann geh mal duschen." Ich nicke.

In Reius haben wir kein warmes Wasser. So kommt es auch, dass ich, als das Wasser meinen Körper berührt, einen spitzen Schrei ausstoße. Um meine Mutter nicht zu beunruhigen, schreie ich noch schnell hinterher, dass alles okay sei. Ehe sie noch einen Schrecken bekommt.

Als ich mit nassen Haaren und völlig verfroren am Küchentisch sitze, sehne ich mich danach, dass Papa ins Zimmer kommt, mich umarmt, mir einen Kuss auf die Stirn drückt und dann zur Arbeit geht. Eigentlich habe ich das immer gehasst, aber jetzt, wo es niemals mehr zurückkehren wird, will ich es wiederhaben. Ich habe das früher nie wirklich registriert. Genau das Gleiche fiel mir auf, kurz nachdem sie Nathan nahmen. Plötzlich habe ich das tägliche Lera-hast-du-deine-Hausaufgaben-gemacht-Ritual  vermisst, das mir früher immer furchtbar auf die Nerven ging, sodass wir uns mehrmals deswegen stritten.

Das Leben ist komisch, oder? Am einen Tag ist man völlig glücklich und zufrieden. Am nächsten wird sein Leben zerstört. Ein Jahr später gerät es noch einmal aus den Fugen. Und plötzlich wünscht man sich ganz andere Dinge als noch vor anderthalb Jahren. Plötzlich denkt man nur noch, dass man hier raus will. Dass man das behalten will, was einem noch geblieben ist. Und da, wo vorher der Wunsch nach einer Katze bestand, ist jetzt der Wunsch nach Sicherheit. Für mich, für Mama, für alle. Denn niemand hat mein Schicksal verdient.

"Alles gut, Lera?" Ich nicke. "Klar", sage ich, ohne sie anzuschauen. Ich merke, dass sie weiß, dass das eine Lüge war, aber sie sagt nichts. Dafür bin ich ihr dankbar. Ich bin ihr für so vieles dankbar. Ich sollte ihr das unbedingt mal sagen.

Lera LinchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt