Die hässliche Blume

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Ernst im orangenen Licht, welches zeigt, dass man sich nicht erst verlieren muss, um sich zu finden.

Es ist kein Sonnenuntergang oder -aufgang, es ist mitten im Wald, mitten in der Nacht, inmitten anderer Menschen. Das Licht wirft sich nur zum Schein auf den Waldboden und die Blätter und die bewegten Menschen. Es bleibt konstant, auch wenn alles andere wogend und zappelnd kommt und geht.

Ernst rennt und rennt und rennt, stolpert über Wurzeln, verflucht die Dunkelheit und schubst Leute. Plötzlich bleibt er abrupt stehen. Rannte er gerade vor etwas weg, hinter jemandem her, oder rannte er vielleicht auch ohne Grund? Vor wem könnte er wegrennen? Hastig drehte er sich um, riss die Augen auf und wirbelte mit den Armen um sich, abwehrend, angriffsbereit. Er betrachtete seine zitternden Hände, die wellenartige Bewegungen zu hinterlassen schienen. Seine Pupillen sahen aus, als wollten sie seine Iris sprengen. Er stand neben sich, und hatte aber das Gefühl, weiterrennen zu müssen. Also gab der eine Ernst sich einen Ruck und nahm den Ernst, der neben im stand an die Hand. Der erschöpfte Ernst wurde vom euphorisierten, Adrenalin und Dopamin-durchströmten Ernst gnadenlos herzklopfend mitgerissen. Vor was könnte er weg- oder: wem hinterherrennen?

Da fiel es ihm wieder ein. Dieses Mädchen mit dem Blumenhemd.

Ernsts Fokus war wieder hergestellt. Es war wichtig und episch. Er kniete sich nieder in eine Sprinter Position, (wobei er sich total professionell fühlte, wie in Zeitlupe, was aber auch daran lag, dass er es in Zeitlupe tat, und es sah tatsächlich total dämlich aus (und das Mädchen mit dem Blumenhemd war bestimmt schon über alle Berge)) und dann setzte er zum Sprint an. Huch, so schnell aufrichten bringt aber einen gehörigen Schubs. Kurzer Schlenker. Kopfschütteln. Schultern und Nacken kreisen wie vor einem Boxkampf. Und: Weiterrennen!

Er hielt Ausschau nach Blumen, und rannte - wenn auch sehr schleppend und schlenkernd. Sein großes gestreiftes T-shirt war ihm aus dem Jeansbund gerutscht, in dem er einen ordentlichen Gürtel trug, und daran seinen Schlüsselbund. Seine Badass-Leder-Geldbörse, die er von seinem Opa geschenkt bekommen hatte, hing schon, bereit zum Absturz, in der letzten oberen Ecke seiner Hosentasche. Sein Tastenhandy auch. Der linke Schnürsenkel an seinen schwarzen Adidas Samba ging auf, und eine Ringelsocke war runtergerutscht, und er hatte vergessen vom Fahrradfahren das eine Hosenbein wieder runterzukrempeln. Aber sonst konnte Ernst schon Dinge ganz gut planen: gestreiftes Tshirt und gestreifte Socken, krass streifenstrategisch, oder?, T-shirt in die Hose, Hose einmal umkrempeln. Doch nochmal kurz den Gürtel aufmachen und nachgucken, dass man nicht die Boxershorts mit dem Bananen-Auberginen-Muster anhat. Ok, nee, die Schwarzen. Gut. Man(n) weiß ja nie. So. Geld und Schlüssel - und Nokia-Backstein nicht vergessen. Einmal mit den Fingern den Mullet sortieren. Sind alle blassen Sommersprossen noch da? Die könnten heute mal Gesellschaft gebrauchen. Glitzer auf die Wangen. Fertig. Ernst wusste, was man macht. Er hatte ja auch genug hochindividualisierte Vorbilder.

In die Turnschuhe, auf das Rennrad, raus aus der Stadt - und tanzen. Und vielleicht beim Radfahren Pause machen und auch noch was kleines konsumieren. Er machte sich auch gerne ganz alleine auf den Weg. Er mochte es viel lieber, seinen Leuten einfach zu begegnen. Zufällig. Oder halt neue Leute kennen zu lernen. Oder auch niemanden, das war alles ok.

Aber gerade stellte er, so gut er es konnte, seine "Wegzehrung" infrage. Denn er wollte ja das Mädchen in dem bunten Blumenhemd einholen, aber jetzt sah er einfach überall Blumen. Sie kamen aus den Bierflaschen der anderen, und fielen ihnen ins Gesicht, als sie daraus tranken. Sie wuchsen aus Ohren und Nasen und Augen, Leute spuckten Blütenblätter aus, als sie sich beim Reden verhaspelten und lachten. Die Blumen streckten sich aus den Lautsprecherboxen, aus der Dunkelheit, aus den Ritzen der Baumrinden, und.. aus dem Boden! Aus dem - Boden. Ernst schob die Schuhe eng zusammen und sah an sich herunter. Genau zwischen seinen Schuhen: Blubb! - eine Blume. Sie guckte ihn an. Ernst guckte zurück. Sie hatte ein echt hässliches Gesicht, und Zahnlücken, und kleine, dicke Augen.

Ernst konnte nicht weggucken, so hässlich war sie. Er wusste nicht, ob er lachen oder heueln sollte. Er wusste nicht, wie lange er dort so gestanden hatte, doch irgendjemand rempelte ihn an und erinnerte ihn daran, dass er doch eine Mission hatte! Noch einmal sah er hastig da hin, wo diese überhässliche Blume gestanden hatte. Sie war jetzt wie vom Waldboden verschluckt. Ernst sah überaus skeptisch hin, er kniff sogar die Augen zusammen und schürzte die Lippen. Dann rannte er aber weiter.

Die Blumen waren jetzt auch verschwunden, und - wahrhaftig! Da hinten war sie! Er konnte ihre bunte Erscheinung, vom Partylicht erhellt, durch das Gebüsch schimmern sehen. Nun musste er sich nur noch hier durch schlagen und dann hätte er sie, ohne dass sie es bemerkte! Wäre das ein Western, würden hier jetzt Ernsts Augen in einem schmalen Streifen erscheinen. Doch stattdessen gibt es eine kurze Einblendung von seinen Socken auf seinem Schreibtisch, die er vom Wäscheständer genommen hatte und noch ordentlich zusammenlegen wollte. So, guckt euch die Socken an: *Fahrstuhlmusik* Seht ihr, Streifen und Sushi und Sonnenblumen... *Fahrstuhlmusik endet abbrupt in einer Sekunde akwarder Stille*.

Okay, zurück zur Spannung! Ernst rannte auf das Gebüsch zu und begann, sich seinen Weg durch zu schlagen. Da hörte er auf einmal Schmerzensschreie. Er drehte sich erschrocken um, die Schreie vertsummten. Okay. Er kämpfte sich weiter. Da war es wieder! Er blieb wieder stehen. Wieder Stille. Er schüttelte den Kopf und knickte einen Ast ab, da ertönte ein schrecklicher Schrei. Auf einmal wurde ihm bewusst, was er da tat. Er verletzte und zerstörte die Pflanzen! "FUCK!", rief Ernst "Ohh sorrysorrysorry Leute, sorry!". Wie als hätte er was verschüttet und wüsste nicht, wo er zuerst mit nem Lappen drüberwischen soll, streichelte Ernst undbeholfen und hektisch über alle Äste und Blätter in seiner Nähe. Einer schlug ihm ins Gesicht zurück. Ernst entwich ihnen langsam rückwärtslaufend, die Hände unschuldig erhoben, verängstigt vom dem wütenden Gemurmel. Er stolperte rücklings über eine Wurzel und krabbelte zuletzt auf allen Vieren rückwärts nach draußen, um sich irgendwie vor diesen merkwürdigen Geschehnissen zu retten.

Ernst und AndersWhere stories live. Discover now