Vierzehn: Die Physik der Kartoffeln

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Wie eine Krabbe die an Land gespült wurde, purzelte Ernst aus dem Gebüsch. Er sah völlig fertig aus. "Was hast DU denn gesehen? Machen die dort drinne rum oder wie? Oder hast du jemanden beim Kacken gestört?", fragte ihn ein Mädchen mit Kreolen die so groß waren, dass man damit bestimmt Delfine trainieren konnte, durch Reifen zu springen. Ernst schüttelte nur den Kopf. "Hab grad ne Erkenntnis gehabt.", murmelte er nur, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. "WAAS?", fragte das Mädchen und beugte sich zu ihm herunter, da sie ihn nicht verstand. "WIR HABEN ZU WENIG RESPEKT VOR PFLANZEN, DAS SIND AUCH LEBEWESEN!" schrie Ernst zurück. Das Mädchen hielt kurz inne, dann nickte sie, ihre Creolen wackelten, die Zustimmung kam schleichend und leicht ironisch. Doch dann sagte sie ganz ernst: "Ja, ich glaub auch, in ein paar Jahren werden Frutarier die neuen Veganer. War cool mit dir, viel Spass noch.". Ernst nickte nur, immernoch erschöpft, und hob eine Hand zum Abschied.

Dann stützte er sich auf seinem Knie ab und erhob sich wie ein ermüdeter Krieger, doch trotzdem voller Kampfgeist. Er stolperte zielstrebig weiter, auf die Menge zu, in der er das Mädchen mit dem Blumenhemd noch vermutete. Die Pflanzen wurden auch langsam leiser, das war ganz gut.

Als er ankam (im großen Bogen um das Gebüsch) sah er sie aber nicht mehr. Er blickte sich inmitten der Menschen um, und fühlte sich etwas verloren. Er hatte heute auch noch keine Leute getroffen, die er kannte, und generell war er recht verwirrt. Die Musik hier war leiser, und er konnte die Gespräche der anderen verstehen.

"Ey, weißt du was mir aufgefallen ist, Kartoffeln sind mega die chemisch krassen Elemente, also - sie sind: gekocht, breiig oder chipsförmig.", erklärte ein 0815-Typ mit einer Bauchtasche von einer 0815-Marke. Sein Gegenüber nickte andächtig, doch dann guckte er kritisch. "Und was ist mit Pommes, alter?". "Oh, hmm." der Chemiephilosoph zuppelte nachdenklich am Reißverschluss seiner Bauchtasche herum "Ey... ich glaub dann halt noch frittiert, und dann haben die einfach 4 Argrar-Zustände." "Boah, das ist schon faszinierend." sagte der andere, und der erste begann auch langsam, von seiner eigenen Aussage nach und nach beeindruckt zu werden. "Ey.. ja, oder? Voll."

Ernst beschloss weiterzugehen.

Auf einmal geriet er in eine ganz andere Menge. "T-shirt AUS! T-shirt AUS! T-shirt AUS!" es klang ein bisschen wie eine Demo. Eine Demo für die Daseinsberechtigung absoluter Oberkörperfreiheit. Aber eigentlich war es ganz niedlich. "AdriAN! Hey - hey ADRian! Mach den Smiley!", rief einer. Die anderen stimmten ein "SMILEY! SMILEYY! SMILEY! SMILEEEYY!". Der arme Adrian verleierte kapitulierend die Augen. Dann beugte er sich ein bisschen nach vorne, drückte seinen Bauch zusammen und die Speckfalten sangen das Lied mit. Es war wunderschön. Alle grölten, und hopsten weiter durch die Kante. Ziemlich viel Glückseligkeit und Haut. Ernst war ein beeindruckt von so viel Freude und Selbstbewusstsein. Und Promille, natürlich. Ein Typ grinste ihn übertrieben glücklich an. Ernst grinste zurück und wurde rot. Einige von den anderen Jungs aus der Gruppe hatten zwar trainierte Oberkörper, aber irgendwie fand Ernst die auf einmal gar nicht mehr so besonders, im Gegensatz zu der Grinsebacke. Es war nicht der Typ an sich, der Ernst beeindruckte, aber irgendwie diese Art von Selbstliebe, die er herüber brachte, wodurch Ernst über seine eigene Einstellung nachdachte.

Neben Ernst stand ein Mädchen herum, die offensichtlich zu der Gruppe gehörte, aber nur gelangweilt an ihrer Limo nippte. Ernst war immernoch ein bisschen verwirrt und unsensibel drauf, und er konnte nicht anders und musste sie was fragen. Ohne Einleitung und Hi sagen fragte er "Kannst du bei denen nicht mitfühlen?", zutiefst beeindruckt von ihrer Coolness, in Anbetracht von so viel Party-Energie und nackter Haut. Sie guckte nichtmal zurück. "Nein, bin zu nüchtern. Um nicht zu sagen: ernüchert.", sagte sie nur. Eine Weile standen sie noch so da. Der eine Typ grinste Ernst immernoch an, und Ernst guckte mittlerweile weg. Dann sah er nochmal das Mädchen an, und sie sah zurück und schenkte ihm ein bittersüßes traurig-schönes Lächeln. "Willst du drüber reden?" fragte Ernst. "Heute nicht.", sagte sie. Ernst sah auf die Uhr von seinem Handy. Mist, es war schon 02:15, das könnte also noch lange dauern, bis dieses "heute" vorbei war.

"Heute will ich nur ein bisschen nicht allein und dabei einsam sein" sagte Sie dann, und Ernst nickte verständnisvoll. "Das heißt, du kannst gehen, denn du bist gerade eine gute Gesellschaft.", meinte sie, und sah ihn freundlich an. Ernst nickte wieder. Er winkte ihr zum Abschied. "Mach's gut.", sagte er, und sie nickte. Sie schien zu verstehen, was er meinte. Es wird wieder gut, es wird besser.

Ernst rannte also wieder los. Immer wieder an diesem Abend hatte er irgendwo das Mädchen mit dem Blumenhemd gesehen, und immer wieder hatte ihn etwas abgelenkt oder aufgehalten, doch das sollte jetzt vorbei sein! Nun musste er sie kriegen, aber unbedingt, und auf alle Fälle.

Doch jetzt sah er sie nicht so schnell wieder. Er schlängelte sich an Warteschlangen (Buschklo) vorbei, er schwamm durch den Schwarm (im Musikmeer, im Basswasser, in der Strobolicht-Strömung) und hüpfte nochmal durch die Menge aus Typen ohne Tshirt, und hielt sich dabei halb die Augen zu. Und gerade als er schon aufgeben wollte, und sich sicher war, dass sie entweder verloren oder nach Hause gegangen war,

als er sich schon traurig und erschöpft auf den dunklen Waldboden niederlassen wollte, um dort zu verroten und zu Humus zu werden, da! - plötzlich, - sah er sie wieder. Er stützte sich von dem Baumstamm ab, an dem er sich gerade hatte runterrutschen lassen wollen, und begab sich in eine schleichende Angriffshaltung.

Sie redete gerade mit jemandem und sah ziemlich friedlich und zufrieden aus. SIE! Friedlich! Pah! Das war ein Anschein, eine Fassade. Und gleich würde sich das eh wieder ändern. Ernst ging los, beschleunigte seine Schritte, joggte, rannte, entwickelte dies zum wohl schnellsten und epischsten Sprint seines Lebens (subjektiv gesehen zumindest). Und auf einmal bemerkte sie ihn, riss die Augen auf. Das Blumenhemd und ihre Haare wirbelten herum, sie rannte los, den Blick noch ängstlich über ihrer Schulter. Der Beat hämmerte und die Menschen feierten, doch all das zählte nicht, als Ernst ihr wie in Zeitlupe und mit präzisem Fokus nachjagte. Die beiden schubsten Menschen, Pflanzen, Motten, ohne Rücksicht auf Verluste. Der ganze Rave hasste sie jetzt bestimmt, doch das war Ernst egal. Und dem Mädchen wahrscheinlich auch. Sie musste schließlich um.. ja um was eigentlich rennen?

Sie schlug Haken und schubste gekonnt Leute als Hindernisse Ernst in den Weg, die verwirrt gegen ihn stießen, doch das änderte nicht, dass er sie bald bis an den Rand der Party verfolgt hatte. Er atmete heftig und war aber noch voller Kraft und wäre jetzt auch bereit, noch durch den halben dunklen Wald zu rennen. Darauf ging es jetzt zu. Doch plötzlich stolperte sie heftig, und lag sofort, mit lang ausgestreckten Armen und den Haaren über Kopf, auf dem Boden. Ernst ruderte heftig mit den Armen, um zum Stehen zu kommen. Die Musik war augenblicklich verstummt. Stille. Sie war über ein Kabel gestolpert. Und hatte es mitgerissen.

Ernst sah sie mit großen Augen an. Alle hielten inne. Gerieten in halblaute Aufruhr über die plötzliche Stille. Sie rappelte sich auf. Sie sah ihn an. Er machte den letzten Schritt auf sie zu. Sie sah nach unten, und die waldbodenverdreckten Haare hingen ihr ins Gesicht, als sie so, ganz ergeben, vor ihm stand.

Ernst streckte seinen Zeigefinger aus, und stubste sie an ihr Schlüsselbein.

"Tipp." sagte er.

"Du bist dran mit Fangen."

Sie hob den Blick und sah ihn an. "Und du hast gewonnen.", sagte sie deutlich. Ernst war immernoch durch den Wind, doch ein Lächeln schlich sich nun langsam und leise auf sein Gesicht. Sie lächelte sogar fast zurück.

"Sagt mal wart ihr das?! Habt ihr ein PROBLEM oder so?" rief jemand.

Ernst und das Mädchen sahen sich an, lachten und kicherten wie zwei ausgebüxte Hühner, dann rannten sie in den Wald und verloren sich dort. Nach einer halben Stunde fand Ernst dann sein Fahrrad wieder, aber das Mädchen nicht mehr, und das war okay. Er hatte schließlich gewonnen. Also fuhr er zufrieden durch den Wald, den Feldweg und die klare kalte Luft nach Hause, während es schon wieder hell wurde, und die Vögel zu zwitschern begannen.

Ernst und AndersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt