Kapitel 15

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  "Wo hast du hier eigentlich übernachtet, ohne dabei erwischt zu werden?" Wir kommen an einer Bank vorbei. Ich nehme Platz und warte darauf, dass auch Damien sich setzt. Das Wetter ist genau richtig. Es ist warm, aber der leichte Wind kühl. 

 "Dort drüben." Ich zeige mit dem Finger zur roten Lokomotive. "Mein Bruder liebte Lokomotiven als er noch ein Kind war." Ich denke an Lucas und wie sehr er sich freute, wenn er irgendwo eine Spielzeuglokomotive in einem Schaufenster entdeckte. "Auch wenn es oft zu hart war, ist es so ziemlich das Highlight seines Tages gewesen, abends in den Vauxhall Park zu schleichen und sich in der Lokomotive zu verstecken." 

 "Hat euch denn niemand je dabei erwischt?", fragt Damien, während ich mit meinen kurzen Fingernägeln spiele. 

 Ich erinnere mich an den Abend, wo zwei kleine Kinder, ich glaube sie waren Brüder, sich nicht von der Lokomotive verabschieden wollten. Bis auf die letzte Minute vor Sonnenuntergang, bevor der Park schließen würde, blieben sie bei der Attraktion und spielten Feuer, Wasser, Eis. Ihre Eltern riefen schließlich nach ihnen, drohten sogar mit Hausarrest. Die Jungen wollten aber nicht kommen. Ich versteckte mich hinter einem Busch und beobachtete das Geschehen, während Lucas Ausschau nach Park-Personal hielt. Aber wir beide dachten nur daran, dass wir kurz davor sind, keinen Schlafplatz für die Nacht zu bekommen. Lucas war mittlerweile nicht mehr ein Kind und ich war fast achtzehn. Die Lokomotive wurde zur Tradition und der Park zu unserem Lieblingsort. 

 An diesem Abend hatten wir Glück. Der Park schloss verspätet seine Tore und irgendwann holte der Vater brüllend seine Söhne persönlich von der Lokomotive ab, sodass mein Bruder und ich uns kurz darauf in ihr verstecken konnten. 

 "Ein einziges Mal wurden wir beinahe erwischt, aber wir hatten Glück. Bis auf einige Tage hatten wir immer Glück.", antworte ich und meine Gedanken wandern zu dem letzten Tag, an dem ich meinen Bruder lebend gesehen habe. Damien merkt, dass ich nicht unbedingt länger darüber reden möchte. 

 Ich höre, wie er die Luft in einem langen Atemzug in seine Lungen strömen lässt. "Ich habe damals auf Bastian und Kyra aufgepasst, wenn meine Eltern arbeiten waren. Wir hätten uns hunderte Nannys leisten können, aber ich wollte nicht, dass es ihnen so wie mir ergeht. Es ist nicht dasselbe, wenn dich eine Fremde ins Bett bringt, die dir in nur wenigen Tagen näher steht als deine eigenen Eltern. Ich habe mir oft gewünscht einen älteren Bruder zu haben, der mit mir Videospiele vor dem drei Meter Flachbildfernseher spielen würde und egal wie sehr ich mich anstrenge, ich trotzdem verlieren würde. Jemanden, der mich in Schutz nimmt, wenn mein von der Arbeit gestresster Vater nach Hause kommt und mir für den geplatzten Deal die Schuld gibt. Aber so jemanden hatte ich nicht. Ein Grund mehr, warum ich dieser jemand für meine kleinen Geschwister sein wollte." Damiens Worte fesseln mich. Er schaut umher, dann wieder auf seine Hände. Er wirkt wie der kleine Junge, der er damals einmal war -- er scheint verloren zu sein. Ich lege meine Hand auf seinen Oberschenkel und spüre, wie sich seine Muskeln unter meiner Berührung anspannen. Doch dann legt er seine große Hand auf meine. "Jedenfalls haben Kyra und Sebastian die Welt anders kennengelernt, als ich es tat. Sie haben ein anderes Bild der Familie bekommen, sind anders aufgewachsen als ich. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als mir meine Eltern mitteilten, sie würden ein Mädchen nur ein Jahr nach Sebastians Geburt adoptieren. Meine Mutter wünschte sich nichts mehr als eine Tochter. Und ich kann kaum in Worte fassen, wie sehr ich sie damals dafür gehasst habe. Nicht, weil ich Schwester bekommen würde, sondern weil ich wusste, dass ich sie öfter sehen würde, als sie ihre neue Mutter sehen würde."

"Wie alt war Kyra bei der Adoption?" Damien hält nun meine Hand und streift mit dem Daumen über den Handrücken.

 Er erzählt mir, dass Kyra nur wenige Monate alt war. Sie kam aus schlechten Verhältnissen. Ihre leibliche Mutter wohnte auf der Straße und wurde täglich von neuen Männern vergewaltigt, bis sie schließlich mit Kyra schwanger wurde. Er meinte, er hätte dies heimlich herausgefunden, als er unerlaubterweise in den Unterlagen seines Vaters schnüffelte und er dabei auf die Adoptionsunterlagen stieß. 

The Rain Upon Us (Damien & Birdie - Trilogie #2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt