Elf

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Ich zählte die Tage in denen sie nicht da war, in denen ich mich nach ihrer stummen Anwesenheit sehnte. Aidan ließ sich ebenfalls selten blicken. Meistens schwänzte er und wenn er da war, starrte er monoton auf die Wandtafel oder schlief. Die Augenringe wichen nicht mehr von seinem blassen Gesicht. Er strahlte keinerlei Glück aus. Er wandelte wie ein Schatten ein uns aus, war unmerklich immer da. Er existierte, jedoch war er nicht sichtbar. Er hatte Ravens Platz eingenommen, von einem Tag auf den anderen. All die Jahre hatte ich seine Probleme niemals ernstgenommen. Immer hatte ich verdrängt, wie schlecht es ihm ging. Wir hatten unsere Zeit miteinander verbracht, weil wir niemand anderen hatten. Wir kannten uns nicht, niemals richtig. Er hatte es versucht, doch wurde er immer von mir abgeblockt. Jahrelange Freundschaften endeten so leicht, so schnell. Es verwunderte mich selbst, wie erstaunlich wenig mich sein Wohlergehen interessierte. In manchen schlaflosen Nächten wanderten meine Gedanken verstohlen zu ihm, für den Bruchteil einer Sekunde verspürte ich sogar Sorge, jedoch verdrängte Raven alles. Raven ließ in mir Abscheu aufblühen, augenblicklich verspürte ich Aidan gegenüber Wut.

Sie trat stumm ins Zimmer, beinahe hätte ich ihre leisen Schritte nicht vernommen. Ich erhob mich und konnte mich nicht davon abhalten zu ihrer Bank hinüberzulaufen. Mit einem verwunderten Blick beäugte sie mich, während sie sich hinsaß.

„Wie fühlst du dich, Moon?", sprach ich sie lächelnd an. Mein Herzschlag beschleunigte sich prompt.

„Weshalb nennst du mich Moon?" Ihre Stimme war gedämpft, leise und an manchen Stellen unnatürlich hoch. Sie war nervös, verunsichert.

„Die Sonne ist wunderschön, doch teuflisch und zerstörerisch. Die sternenlose, schwarze Nacht ist beruhigend, zugleich beängstigend und verschlingend. Du bist keines davon." Ich sah ihr geradewegs in die aschenschwarzen Augen, blickte direkt in ihre verletzliche Seele. Sie wandte den Blick ab.

„Was ist dann der Mond?" Moon biss sich sichtlich unwohl auf die Unterlippe.

„Der Mond kann ohne Sonne nicht existieren. Er verschwindet und gerät in Vergessenheit. Doch wenn er strahlt, ist er atemberaubend schön."

„Ich habe keine Sonne", stellte sie leise fest. Ein Lächeln umspielte meine Lippen.

„Ich kann deine Sonne sein." Ich streckte ihr die Hand hin. „Ich bin Jona." Aiden – ich habe meinen früheren Mond ersetzt. Ich war teuflisch, ich war ein Scheusal. Eine Sonne konnte niemandem Licht geben, der nicht strahlen wollte. Eine Sonne verbrannte, was zu sehr nach ihrem Licht gierte.

Zitternd hob Raven ihre Hand und legte sie in meine. Sie lächelte.


Wünsche und Hoffnungen – das sind lediglich Träume. Ich mag eine Träumerin sein, mein Lebensglück allerdings erträume ich mir nicht.

*


Rabenschwarz - Die Existenz von NiemandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt