Kapitel 34

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Jennie Pov

Ein paar Stunden zuvor

Es ist früh am Morgen und damit meine ich nicht die übliche Zeit, sondern wirklich verdammt früh am Morgen. Vielleicht fünf Uhr, wenn nicht sogar früher und obwohl ich erst in einer Stunde aufstehen müsste, bin ich bereits angezogen und bin dabei ins Wohnzimmer zu gehen. Denn der einzige Grund, aus welchem ich wach bin, ist einzig und allein mein Vater, welcher mich geweckt und zu mir gesagt hat, dass ich aufstehen, mich fertig machen und schließlich runter kommen soll, weil es etwas zu besprechen gibt. Natürlich weiß ich nicht, warum die beiden genau jetzt mit mir sprechen müssen und nicht bis später warten können, aber ich weiß, dass es etwas wegen meinem gestrigen Outing zu tun haben muss.

Es erscheint mir also umso komischer, dass sie mich dafür extra aus dem Bett holen und das, wenn es draußen sogar noch total dunkel ist, aber einen anderen Grund kann es unmöglich geben. Oder er fällt mir einfach nicht ein.

Sobald ich unten ankomme, erblicke ich bereits meine Mutter, welche auf dem Sofa sitzt. Ihre Beine sind übereinandergeschlagen und ihr Blick so kühl wie gestern auch schon. Kaum sieht sie mich jedoch, wendet sie ihren Blick ab, als wäre sie ein kleines Kind, welches eingeschnappt ist, weil es seinen Keks nicht vor dem Mittagessen kriegt. Mir ist durchaus bewusst, dass sie wütend auf mich ist, aber dieses Verhalten ist absolut bescheuert. Das, was ich ihnen gestern erzählt habe, ist nichts, wofür man sauer sein kann. Ohne darauf einzugehen, etwas zu sagen oder sonst irgendwie zu reagieren, lasse ich mich auf den Sessel gegenüber fallen und schiele zu meinem Vater, als auch dieser den Raum betritt und sich neben meiner Mutter niederlässt.

Diese Situation kommt mir nur allzu bekannt vor, denn jedes Mal, wenn ich etwas falsch mache oder mein Verhalten ihnen nicht gefällt, muss ich hier sitzen und mir anhören sowie akzeptieren, was sie zu sagen haben. Kurz reibe ich mir meine müden Augen, dann schaue ich sie wieder an und als mein Vater zu sprechen beginnt, ahne ich bereits Böses.

„Jennie, deine Mutter und ich haben uns Gedanken gemacht, wegen dem, was du uns gestern mitgeteilt hast. Ich hoffe, du weißt, was du mit deiner Aussage angerichtet hast, das ist nämlich etwas, das wir nicht länger einfach so hinnehmen können. Du hast dir in den letzten Monaten bereits genug erlaubt. Du trainierst nicht genug, deine Lehrerin beschwert sich über dich und morgens bist du auch nicht bei allen Kräften, weil du bis in die Nacht an deinem Handy sitzt und was weiß ich nicht an diesem machst. Und jetzt erzählst du uns auch noch, dass du nicht an Männern, sondern an Frauen interessiert bist und trennst dich zudem auch noch von Kibum - einem vorbildlichen Jungen. Was denken die Menschen nur von uns, wenn sie all das erfahren? Denkst du denn auch nur einmal an deine Familie, statt immer nur an dich selbst?

Wir wissen nicht, was das für eine Phase ist, in der du dich befindest und können nicht sagen, woher das so plötzlich kommt. Aber eines wissen wir ganz sicher - dass wir dieses Verhalten nicht länger dulden. Wir wissen einfach nicht, wie du uns und dir selbst so aus den Händen gleiten konntest, Jennie, und deshalb halten wir es auch für das Beste, dich auf ein Internat in Japan zu schicken."

Noch während er erzählt, bildet sich ein Kloß in meinem Hals, als er jedoch die letzten Worte ausspricht, scheint meine ganze Welt mit nur einem Fingerknipsen zusammenzubrechen. Ich kann nicht glauben, was sie mir im Augenblick erzählen.

„Auf ein... Internat?", gebe ich fassungslos von mir, den Tränen verdammt nahe und rutsche bereits etwas nach vorne. In dem Gesicht meines Vaters verändert sich absolut nichts, er schaut mich weiterhin ausdruckslos an, ich weiß nicht einmal, ob er blinzelt. „Ihr wollt mich wegschicken?", lege ich nach und blicke schließlich zu meiner Mutter. "Mum, ist das wahr?", möchte ich wissen, doch sie schaut mich nicht an, sondern spielt immer noch die beleidigte Leberwurst. Man könnte meinen, dass alle Eltern so etwas wie Mitgefühl für ihre Kinder empfinden. Aber spätestens jetzt wird mir bewusst, dass es zumindest bei Meinen nicht so ist.

In mir sammelt sich nicht nur eine unfassbare Trauer, sondern auch eine große Wut, die aus mir ausbrechen möchte.

„Das Internat unterrichtet zusätzlich Ballett und dort herrschen sehr strenge Regeln, an die du dich halten wirst. Es wird endlich Zeit, dass du wieder den richtigen Weg findest und Disziplin lernst. Du brauchst eine neue Umgebung, eine neue Schule und neue Leute um dich herum, damit du wieder zu dir finden kannst. Deine Mutter und ich arbeiten bereits genug, wir können uns nicht noch um deine Probleme kümmern und riskieren, dass du unsere Familie bloßstellst", erklärt mein Vater mir und klingt dabei unglaublich gelassen, als wären seine Worte nichts, was einen auch nur ansatzweise verletzten könnte.

Auf seine Worte schüttle ich fassungslos den Kopf und lache bitter auf. „Ich kann es einfach nicht glauben. Meine eigenen Eltern schieben mich ab, als wäre ich nichts weiter und das nur, weil ich nicht so bin, wie ihr mich haben wollt. Nur, weil ich ehrlich mit euch war, nur, weil ich nicht länger diese Lüge leben konnte. Es ist keine Phase und nichts, was vorübergehen wird. Das bin ich und ihr könnt mich nicht ändern, indem ihr mich einfach in irgendein so ein blödes Internat steckt! Anstatt auf meine Gefühle achtzugeben, Verständnis für mich aufzubringen und mich zu akzeptieren, versucht ihr mich zu ändern und mich zu jemanden zu machen, der ich nicht bin! Ihr interessiert euch nur für den Ruf unserer Familie und meine Leistungen im Ballett, aber das, was hier drin ist." Ich mache eine Pause und legte meine Hand auf die Stelle über meines Herzens. „Das ist euch vollkommen egal", beende ich meinen Satz schließlich.

Mir laufen bereits einige Tränen über meine Wangen und ich schaue die beiden an, doch selbst, als meine Mutter mich endlich anschaut, erkenne ich nichts als absolute Kälte in ihren Augen. Sie lassen nicht mit sich reden, sie hören mir nicht zu und es ist ihnen egal. Meine Worte ziehen an den beiden vorbei und schließlich ergreift mein Vater ein weiteres Mal das Wort. „Wenn du heute zur Schule gehst, packst du deine ganzen Sachen zusammen und bis heute Mittag ist auch dein Koffer fertig. Ich fahre dich noch heute zum Flughafen, es reicht mir langsam mit dir."

Ein letztes Mal blicke ich die zwei an, in der Hoffnung, die Erkenntnis darüber, was sie gerade dabei sind zu tun, würde sie erschlagen, aber dem ist nicht so. Sie werden ihre Meinung nicht ändern, werden mich niemals so akzeptieren, wie ich bin und das ist etwas, das ich einsehen muss. Also stehe ich auf, nicke wissend und wische mir die Tränen weg.

„Ich schäme mich nicht dafür, lesbisch zu sein. Ihr könnt sagen, was auch immer ihr möchtet und mich hinschicken, wohin ihr möchtet. Nach Japan, nach China oder von mir aus auch auf die andere Seite dieser Erde. Aber ändern könnt ihr daran absolut nichts und ich lasse mich nicht länger von euch bearbeiten und kleiner machen, als ich bin. Schickt mich ruhig weg, das ist mir nur recht, denn ich ertrage ohnehin keine einzige Sekunde mehr mit euch."

Mit diesen Worten drehe ich mich schluchzend um und renne hinauf auf mein Zimmer, ehe ich mich auf mein Bett fallen lasse, mein Gesicht in mein Kissen drücke und den Tränen freien Lauf lasse. Eine kurze Weile lasse ich alles raus, dann greife ich wie von selbst mein Handy und ehe ich mich versehe, ist auch schon Jisoos Nummer gewählt.

Ich brauche sie jetzt. Ich muss sie sehen, muss mit ihr sprechen und ihre Stimme hören, welche mir sagt, dass alles gut wird. Ich möchte in ihren Armen liegen, ihre Wärme spüren und ihren Duft einatmen. Ganz egal, was vorher passiert ist. Das spielt im Moment keine Rolle, denn ich brauche sie einfach mehr denn je. Nicht Kibum, nicht Minhee, sondern einfach nur sie. Nur Jisoo kann mir jetzt dabei helfen, diesen Schmerz zu betäuben und ihn erträglich zu machen.

Aber auch das ist irrelevant.

Denn obwohl ich es mehrmals klingeln lasse, sie mehrmals anrufe und ihr sogar einige Nachrichten schreibe, erhalte ich keine Antwort. Keine Reaktion. Und spätestens hier wird mir bewusst, dass selbst der einzige Mensch, auf welchen ich von anfang zählen konnte, mich verlassen hat und ich nun vollkommen allein dastehe.

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Partnerstory written by @riawinchesterx & @elijeon

TIPTOE || JensooWo Geschichten leben. Entdecke jetzt