Kapitel 1: Prolog - Winter in Moskau

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Mit einem Seufzer schlug Erik den Klavierdeckel zu und packte seine Noten zusammen. Es war genug, er konnte nicht mehr. Besser er legte sich noch ein paar Stunden hin, damit er morgen beim Vorspielen ausgeschlafen war. Immerhin hatte er es bis in die letzte Runde des internationalen Wettbewerbs geschafft. Vielleicht hatte er ja noch eine Chance.

Er blickte aus dem Fenster auf die verregneten Moskauer Straßen. Zwei Wochen in dieser Stadt und er hatte außer seinem schäbigen Hotelzimmer, dem Proberaum und dem Konservatorium nicht viel gesehen. Seine Schwester hatte einige Jahre hier gelebt und ihm eine ganze Liste ihrer Lieblingsplätze aufgeschrieben, die er unbedingt sehen sollte, aber er war zu nichts gekommen. Seine ehemaligen Schulkollegen daheim in Dänemark beneideten ihn um seinen Lebensstil. Er hatte in Stockholm, und ein Semester lang in New York studiert und auch jetzt noch bekam er einiges von der Welt zu sehen. Musikwettbewerbe, Meisterklassen und Engagements. Er liebte das, doch in Momenten wie diesen konnte fühlte er sich recht einsam. Wenn er erschöpft und einfach nur am Ende war und nicht wusste, wo er die Energie für den morgigen Auftritt hernehmen sollte. Er hatte sich monatelang vorbereitet und hart gearbeitet. Was wenn das alles nicht reichte? Nur einer konnte gewinnen.

Sein Körper fühlte sich an wie Blei, als er seine Tasche schulterte und sich auf dem Weg zurück ins Hotel machte. Er fühlte sich zunehmend unwohl. Die Woche nach dem ersten Vorspielen hatte er mit seiner verschleppten Grippe im Bett verbracht. Seit Monaten brach sie immer wieder hervor. Immer wenn er es am wenigsten brauchen konnte, krank zu sein.  Bestimmt war es wirklich besser, er legte sich schlafen und wenn er sich morgen früh immer noch schrecklich fühlte, hatte er zumindest Tabletten dabei, die ihn für das Vorspiel fit sein lassen würden. Und hinterher die Sintflut.

Tschaikovskys Klavierkonzert verfolgte ihn bis in seine Träume. Der Flügel krachte und das Pedal klemmte. Die Augen der Jury waren streng und ungeduldig auf ihn gerichtet. "Einen Moment noch ...", krächzte er, während er auf allen Vieren mit einem Schraubenschlüssel auf dem Boden hockte und versuchte das Pedal zu reparieren. Er schraubte und schraubte und es wackelte immer heftiger.

"Sie wollen ein Konzertpianist sein und können nicht mal ein Pedal anschrauben?", sagte der Vorsitzende verächtlich. "Raus mit Ihnen! - Wer kommt als nächstes? Jitka Korolová. Bitte." Die tschechische Pianistin schwebte in einem blassrosa Abendkleid herein, nahm ihm den Schraubenschlüssel ab und hatte mit drei graziösen Handgriffen das Pedal fixiert.

"Grandios!" Die Jury applaudierte und der Saal jubelte. Jitka knickste, während Erik verschwitzt mit seiner Notenmappe in der Hand daneben stand und verdutzt in den Saal schaute. Das blonde Mädchen im rosa Kleid nahm am Flügel Platz und im Saal herrschte absolute Stille in Erwartung des Rachmaninoff Konzerts. Erik spürte plötzlich ein Kratzen im Hals, ein Hustenanfall, der sich nicht zurückhalten ließ, er wollte von der Bühne laufen, so schnell er konnte. Doch da erkannte er, dass er in Wirklichkeit, in seine Bettdecke verheddert und hustend in seinem Hotelbett lag. Ihm war kalt und er wickelte sich wieder in die Decke, doch sein Körper hörte nicht auf zu zittern. Irgendwann gehorchten seine Arme und Beine ihm wieder einigermaßen, er schaltete die Nachttischlampe ein und tastete ungeschickt nach der Tasche in der die Tabletten steckten, die das Fieber in Schach halten und den Husten unterdrücken sollten. Er musste schlafen, verdammt. Und er durfte morgen nicht krank sein.

Als sein Wecker klingelte lag er schon seit einiger Zeit wach, ohne wieder einschlafen zu können. Während der Nacht hatte er sich einige Male im Bad übergeben und als er nun aus dem Bett kroch, fühlte er sich schwach und zittrig. Er wusste, dass er etwas trinken musste und versuchte zumindest einen kleinen Schluck Wasser hinunter zu bekommen, aber es kam ihm alles wieder hoch. Wie sollten die Tabletten da überhaupt helfen. Das ist die Nervosität, sagte er sich, nichts anderes. Du gehst jetzt dorthin und spielst und dann wird dich ein Adrenalinstoß, wie im Nu durch das Konzert tragen. Zwanzig Minuten. Es wird dir vorkommen wie nichts!

Jede einzelne Bewegung fiel ihm schwer, doch er zwang sich einen Schritt nach dem anderen auszuführen und sich fertig zu machen. Er duschte, putzte sich die Zähne und redete sich dabei ein, dass man sich frisch geduscht doch gleich wie ein anderer Mensch fühlen musste. Doch aus dem Spiegel blickte ihm sein Gesicht bleich und hohläugig entgegen, als fragte es ihn, wem er da eigentlich in die Tasche lügen wollte. Er zog seinen schwarzen Anzug an und kontrollierte noch einmal die Notenmappe. Hustend steckte er sie in die Tasche und zog sich den Mantel über. Es war Zeit zu gehen.

Die Bewegung des Aufzugs ließ das flaue Gefühl im Magen nicht weniger werden und als er in die Lobby trat, fühlten seine Knie sich an wie Gummi. Aus Lautsprechern tönte Vogelgezwitscher mit Panflötenmusik und er hielt sich einen Moment lang an einer Säule fest, um das Gefühl loszuwerden, dass der ganze Raum um ihn schwankte. Der Weg zum Konservatorium dauerte nur zehn Minuten, aber vielleicht sollte er sich ein Taxi rufen lassen. Er plante seine nächsten Schritte. Zur Rezeption. Dann zu diesem gemütlich ausschauenden Kunstledersofa ... Doch seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Dunkle Flecken tanzten vor seinen Augen, die Vogelstimmen entfernten sich und die Panflöten gaben ein schrilles Flirren von sich. Er hörte rufende Stimmen und Schritte, die auf ihn zukamen. Und dann fühlte er sich von einer weichen und barmherzigen Dunkelheit umhüllt.


Bildrechte: Thomas Glan/Wikipedia

Das Schicksal spielt in Dur und MollTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang