104. Kapitel - Frostbeulen riskieren?

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Karina war der Meinung, dass Erik mit seiner Mutter und Jitka ausreichend Gesellschaft und Betreuung hatte, aber sie machte sich Gedanken um Sylvie. Als sie auf den Gang trat, bekam sie gerade noch mit wie diese eine wohlmeinende Ärztin anfauchte und in Richtung Toilette davonlief.

Sylvie schien es kaum noch zu gelingen ihre aufgeräumte Fassade aufrecht zu halten. Gleich beim Hereinkommen war Karina das aufgefallen und es hatte ihr einen Stich versetzt, ihre sonst so starke und strahlende Sylvie so zu sehen. So bleich und in sich gezogen. Es wirkte, als spielte sie nur noch ein Programm ab, das gewährleistete, dass sie das tun konnte, was sie von sich erwartete. Alles regeln und organisieren, während sie über künstliche Herzklappen referierte ...

Erik hatte im Vergleich dazu einen beinahe schon gelassenen Eindruck gemacht. Er schien erleichtert zu sein, dass man sich jetzt um ihn kümmerte, und harrte nun der Dinge, die auf ihn zukamen. Er schien diese Operation einfach hinter sich bringen zu wollen, da er genug davon hatte, krank und in allem eingeschränkt zu sein. Karina konnte das gut verstehen.

Sie wusste allerdings, dass Sylvie es sich nicht erlaubte, darauf zu vertrauen, dass Andere sich gut um ihren Bruder kümmern und sein Leben retten würden. Sylvie vertraute nur auf das, was sie selbst tun konnte. Und Sylvie konnte zwar vieles, aber so eine Herzoperation, die würde sie schon anderen überlassen müssen. Auch wenn sie vorhin die verschiedenen Optionen für Herzklappen geschildert hatte, als täte sie nie etwas anderes. So ein weißer Kittel stand ihr bestimmt hervorragend, und die herzchirurgische Koryphäe hätte man ihr sofort abgekauft. Sylvie wäre vermutlich die perfekte Hochstaplerin oder Doppelagentin. Vielleicht zu perfekt. So perfekt, dass es schon wieder verdächtig wirkte.

Doch nun stand ihr die Angst ins Gesicht geschrieben. Die Angst, die während der letzten Monate ständig dabei gewesen war und, die sie trotzdem meist für sich behalten hatte. Als könnte sie zu groß werden, wenn sie sie rausließ und darüber sprach. Dennoch war alles, was Sylvie in den letzten Monaten getan hatte durchdrungen gewesen, von der Angst Erik vielleicht für immer zu verlieren. Ihre Einwilligung das Konzert in Prag zu spielen, ihre unzähligen kleinen Bemerkungen, die Erik immer mehr auf die Palme brachten und nicht zuletzt die Tatsache, dass sie sich nach dem Streit mit Jitka so schnell überreden hatte lassen einen Waffenstillstand mit ihr zu schmieden.

Schließlich hatte Sylvie sich immer mehr zurückgenommen, um Erik nur ja alles Recht zu machen und war trotzdem ständig angeeckt. Sylvie konnte es nicht ertragen, dass sie es nicht schaffte, so zu sein, wie sie dachte sein zu müssen und Erik konnte nicht mitansehen, dass sie immer mehr aufhörte sie selbst zu sein. Zumindest ging es Karina so, jetzt wo sie auf einmal begann die Zusammenhänge zu begreifen. Gewiss, vieles hatte sie lange geahnt. Sie hatte manchmal bewusst, manchmal unbewusst die Veränderungen wahrgenommen, die in Sylvie seit Turin vor sich gegangen waren. Aber es war schwierig gewesen, das alles einzuordnen. Immerhin hatte sie Sylvie damals noch nicht wirklich gekannt. Und das tat sie auch jetzt noch nicht. Was hätte sie nur für sie tun können, um ihr die Situation zu erleichtern?

Sie erinnerte sich an Eriks Worte. Er hatte ihr immer wieder gesagt, sie solle einfach nur bei Sylvie sein, und immer betont, dass sie mit Karina viel entspannter wirkte. Er verstand seine Schwester wohl am besten und vielleicht hatte sie ihr ja geholfen. Irgendwie. Es war rührend, wie Erik und Sylvie die letzten Monate über versucht hatten, einander gegenseitig Steine aus dem Weg zu räumen, wie sie versucht hatten einander das Leben leichter zu machen. Und doch schien beim anderen zum Schluss nur mehr das Gegenteil davon angekommen zu sein. Und jetzt hatte Erik eben nicht mehr die Kraft, sich diesem unterdrückten Hurrikan entgegenzustellen, der jederzeit alle Dämme einreißen konnte.

Karina lief Sylvie ein paar Schritte weit nach, machte dann jedoch Halt vor der zuknallenden Tür zum Damen-WC. Sie wollte offensichtlich alleine sein und alles mit sich selbst ausmachen. Karina kauerte sich draußen auf die Bank und wartete. Sie kannte Sylvie bereits gut genug, um zu wissen, dass sie sich wieder Frostbeulen holen würde, wenn sie jetzt ihrem Drang nachgab, sie drücken, umarmen und trösten zu wollen.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWhere stories live. Discover now