81. Kapitel - Schnellbahnfahrt

40 10 0
                                    

Sylvie drückte rasch und routiniert auf die elektronischen Schaltflächen des Fahrkartenautomaten, um die Tickets für Jitka und Karina zu kaufen. Dann scheuchte sie die beiden weiter zum Bahnsteig, sodass sie gleich den nächsten Zug erwischen konnten.

"Uff, so eine Hektik!", maulte Jitka, als sie endlich saßen. "Und das im Urlaub."

"Ich dachte, du hast es eilig, Erik wieder zu sehen", sagte Sylvie. Sie hatten einen Vierersitz ergattert, auf dem sie selbst samt Gepäck und Cello Platz hatten. "Ich wollte, dass wir den direkten Zug erwischen", fügte sie dann hinzu. "Sonst müssen wir mit den ganzen Sachen hier am Hauptbahnhof umsteigen." Normalerweise hätten sie dort den Zug verlassen. Sowohl sie, als auch Erik wohnten in der Nähe des Bahnhofs. Doch, um zu ihrer Mutter zu kommen, mussten sie an den gegenüberliegenden Stadtrand.

Jitka, die neben dem Cello saß, meckerte jetzt zum Glück nicht mehr, sondern machte nur ein betretenes Gesicht.

"Gut, dass ich wenigstens hier einen Fensterplatz habe", sagte Karina und lehnte sich ein wenig an Sylvie. "Im Flugzeug hat mir Sophie die ganze Zeit die Sicht weggenommen." Nun musste Sylvie grinsen. Sie blickte das Cello an und dachte an die Frau mit den zwei missmutigen Töchtern, die ihr beim Konzert begegnet war.

"Dafür sind hier die Scheiben verdreckt", sagte sie schließlich.

"Macht nichts", entgegnete Karina mit einem entspannten Lächeln. "Du bist mir ohnehin lieber als das Fenster." Sie nahm Sylvies Hand und begann an ihren Handschuhen herumzunesteln. Während sie wortlos auf die grauen Vorstädte hinausblickten, sah Jitka nachdenklich drein und hielt das Cello fest, das neben ihr auf dem Sitz stand und sie um einiges überragte. Nach einer Weile räusperte sie sich und fragte: "Sylvie? Wie geht es Erik? Also, wie geht's ihm wirklich?"

"Ich dachte, ihr sprecht täglich miteinander", antwortete Sylvie, doch sie war nicht im Geringsten überrascht. Im Gegenteil. Sie rechnete Jitka diese direkte Frage hoch an. Sie schien ihr nicht leicht gefallen zu sein.

"Ja, das tun wir, aber ich glaube, er sagt mir nicht alles", antwortete sie etwas verlegen.

"Er will nicht, dass du dir Sorgen machst, während du weit weg bist und ohnehin nichts tun kannst", gab Sylvie zurück und Jitka nickte.

"Aber jetzt bin ich hier", sagte sie.

"Das ist wahr. Im Moment geht es ihm auch wieder etwas besser. Vielleicht liegt das daran, dass du kommst, vielleicht ist es das neue Medikament, das ihm der Arzt letztens verschrieben hat. Vielleicht beides zusammen. Um Neujahr herum, war er ziemlich fertig. Körperlich und auch psychisch. Er ist ständig müde, muss sich immer öfter ausruhen, hat Flüssigkeitseinlagerungen in den Beinen, wie wir seit dem letzten Arzttermin wissen auch in der Lunge, er hustet ständig. Obwohl, mit den neuen Tabletten ist das jetzt besser, dafür ist er ständig auf der Toilette. Aber auch besser gelaunt. Wie du dir denken kannst, frustriert es ihn sehr, dass er kaum noch was machen kann. Er hat Angst, das gibt er mittlerweile selbst zu. Schließlich sind es jetzt nur noch zwei Wochen. Das kann selbst Erik nicht mehr verdrängen. Doch wie gesagt. Die besseren Phasen sind in den letzten Tagen wieder etwas länger und häufiger. Aber mach dich darauf gefasst, dass es einmal so ist und einmal so." Damit war wohl das Wichtigste gesagt. Jitka hatte ihr mit zusammengekniffenen Lippen und ineinander verschränkten Fingern zugehört und Sylvie hatte keine Anstalten gemacht ihr irgendwas schönzureden.

"Danke, dass du so ehrlich bist", sagte sie dann.

"Du hast gefragt, also bekommst du eine Antwort."

"Ich habe dir gesagt, dass du von Sylvie nichts anderes als ehrliche Antworten bekommen wirst", sagte Karina, die Sylvie mittlerweile ihre Handschuhe abgestreift hatte, ihre Hände umfasste und über ihre schorfigen Fingerkuppen rieb. Was auch immer sie daran fand.

"Ich finde es toll von eurer Mutter, dass sie uns in ihrem Haus unterbringt", sagte Jitka dann.

"Überlegt euch nachher noch einmal, ob ihr das gut findet", sagte Sylvie und lachte gutmütig. Eigentlich war sie auch ganz froh, dass ihre Mutter diese Variante von sich aus vorgeschlagen hatte. Vor allem was Jitka und Erik betraf. Sie hatte sich nach wie vor die Möglichkeit vorbehalten, hie und da mit Karina in ihrer eigenen Wohnung zu übernachten. Wenn sie ihre Ruhe haben, oder näher an der Innenstadt sein wollten.

"Meine Mutter ist ziemlich neugierig auf euch. Als wir noch klein waren, hatten wir nie den Platz für Übernachtungsparties, vielleicht möchte sie das jetzt nachholen. Außerdem sind Alexander und die Kinder für ein paar Tage zu seiner Verwandtschaft gefahren, sie möchte Erik bei sich haben und euch beide kennen lernen. Das ist die ideale Gelegenheit. Aber ich warne euch vor. Sie wird euch Löcher in den Bauch fragen."

"Kein Problem", sagte Karina. "Das können wir auch. Ich wollte immer schon hören, wie du als Kind warst."

"Untersteh' dich!", warnte Sylvie, aber sie wusste jetzt schon, dass ihre Mutter vor lauter Begeisterung, Jitka und Karina kennen zu lernen, ganz ungefragt irgendwelche alten Geschichten aus der Versenkung holen würde. Und sie kannte Karina gut genug, um zu wissen, dass diese nur noch weiter nachbohren würde. Am Ende kramte Mama noch die Kartons und Alben mit den alten Fotos hervor. Naja, Baby- und Kleinkindfotos gab es von ihr ohnehin nicht so viele, wie von Erik. Er war auch eindeutig das süßere und hübschere Kind gewesen. Als sie so ein Dreikäsehoch gewesen war, hatte ihre Mutter sich zwar bemüht, aber das Fotografieren und Dokumentieren war wohl mehr in den Hintergrund gerückt. Es gab erst wieder mehr Bilder von ihr als Schulkind. Lukas hatte immer viele Fotos gemacht, bei Schulfesten und Geigenkonzerten. Zu der Zeit waren sie sogar öfter alle zusammen in den Urlaub gefahren.

"Kommt, wir steigen aus", sagte sie ziemlich unvermittelt, als sie erkannte, dass sie schon fast da waren. Mit dem Gepäck brauchte man immer drei Mal so lange. Sie schnappte Karinas Koffer, Karina nahm Jitka das Cello ab und Jitka nahm sich ihr eigenes rotes Köfferchen, das gepunktet war, wie ein Marienkäfer. Irgendwie passte das zu ihr.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWhere stories live. Discover now