50. Kapitel

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Die Violinen spielten ihre ersten leise flirrenden Akkorde. Im vierten Takt setzte Sylvie ihren Ton schwebend über dieses gleichmäßige Schimmern und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf den Klang der strahlenden und zugleich melancholischen Melodie des Hauptthemas. Sie hatte das Konzert wie gewohnt memoriert, ihre Finger wussten, was zu tun war, sie konnte die Noten Takt für Takt vor ihrem inneren Auge abrufen, immer wusste sie, was als Nächstes kommen würde. Keine Überraschungen. Hatte sie gedacht.

Doch der Moment in dem die ersten und zweiten Violinen das Konzert eröffneten hatte ihr unvermutet eine Gänsehaut über den Rücken gejagt und jedes neu hinzukommende Instrument, die Oboe, die einmal ihr Echo spielte, das Anschwellen des Orchesters, verursachte ihr ein freudiges Kribbeln auf der Haut. Erik hatte ihr die Begleitung so wunderbar gespielt, wie man sie auf dem Klavier eben spielen konnte. Aber das hier ... das konnte ein einzelnes Klavier nicht. Sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, einfach so von der Musik überwältigt zu werden.

Mit Überraschungsmomenten auf der Bühne konnte sie jedoch umgehen. Ihre minutiöse Vorbereitung machte es möglich, dass sie sich auf sich selbst verlassen konnte, wie auf ein gut funktionierendes Uhrwerk. Ihre Finger spielten wie von alleine, sie musste sich nur in den herrlichen Orchesterklang hineinfallen lassen und das Spiel genießen.

Etwas enttäuscht ließ sie die Arme sinken, als Karina zum ersten Mal unterbrach, um die jungen Damen und Herren im Orchester daran zu erinnern, dass mit pianopianissimo wirklich ganz, ganz leise gemeint war. Wie sollten sie sich denn steigern, wenn sie schon am Anfang alles aus ihren Instrumenten herausholten.

"Erste und zweite Geigen, denkt an einen finnischen See und winzigkleine Gelsen, die in der Mitternachtssonne darüber hinwegschwirren! Keine Hubschrauber, nicht einmal Hummeln oder Bienen, verstanden?" Sylvie schmunzelte in sich hinein und aus der hinteren Ecke, wo das Schlagwerk stand, hörte sie ein paar Lacher. Das mit den Hubschraubern war natürlich absolut übertrieben gewesen, aber die Hummeln kamen dem schon näher. Rückblickend fand sie das auch, obwohl in dem Moment hatte es sie nicht gestört. Sie hatte es genossen sich von den Akkorden einfach so treiben zu lassen und ein wenig zu versinken. Mit der Mitternachtssonne war sie nicht ganz einverstanden, sie hatte sich immer einen Sonnenaufgang vorgestellt. Und Schilf. Doch das konnte sie auch später mit Karina besprechen. Vermutlich gehörte es sich nicht, vor versammeltem Orchester mit der Maestra eine Debatte über solche im Grunde irrelevanten Hirngespinste vom Zaun zu brechen.

Die Probe verging wie im Flug, Sylvie hätte noch ewig so weitermachen können. Dabei verriet ihr ein Blick auf die Uhr, dass sie über drei Stunden geprobt hatten, mit einer Pause dazwischen. Als sie geistesabwesend ein Tuch zwischen Saiten und Steg der Violine durchzog, um sie vom Kolophonium zu reinigen, mit dem sie vor dem Spielen die Bogenhaare eingerieben hatte, fühlte sie sich federleicht, voller Adrenalin und wusste kaum, wohin damit.

Karina redete noch mit einzelnen Musikern, beantwortete ihnen anscheinend noch alle möglichen Fragen. Sie hatte Karina gerade zum ersten Mal in Aktion erlebt und sie bewunderte ihr pädagogisches Geschick, ihre Ruhe und ihre Geduld. Sie musste auch anerkennen, dass die Musiker sehr gut spielten und diszipliniert waren. Auch das war vermutlich Karina zu verdanken. Sie hatte nicht nur außergewöhnliches Gespür und Leidenschaft für die Musik, sondern auch für den Umgang mit Menschen. Immerhin hatte Sylvie schon eine ganze Reihe an Dirigenten erlebt, von denen so mancher Herr in den großen Häusern sich bei Karina noch etwas abschauen konnte.

Plötzlich wurde auch sie von jungen Menschen umringt. Ein paar der Violinistinnen hatten sich zu ihr vorgewagt, ein paar andere waren ihnen etwas neugierig und zaghaft nachgefolgt. Eine, die sie wohl zu ihrer Sprecherin erkoren hatten, oder sie sich selbst, machte ihr Komplimente zu ihrem Vortrag und fragte sie, ob sie irgendwelche Tipps für angehende Violinistinnen hätte, die es zu was bringen wollten. Da fragten sie gerade die Richtige. Was Karina ihnen wohl alles über sie erzählt hatte? Die hatte ihnen Sylvie wohl als das Achte Weltwunder angepriesen. Ob diese jungen Dinger überhaupt wussten, dass sie das hier gar nicht mehr machte? Dass sie 'Stadt und Land'-Reporterin war und Artikel über Gartenzwerge schrieb? Eine kurze Internetrecherche hätte ihnen das gewiss bestätigt. Aber vermutlich wollten die das gar nicht so genau wissen. Vielleicht sollte sie einfach mitspielen und für ein Wochenende so tun, als wäre sie immer noch die Solistin, die sie irgendwann gewesen war. Immerhin fühlte es sich im Moment fast so an, als wäre sie das. Ein seltsames Gefühl, fremd und irgendwie vertraut zugleich. Es verwirrte sie.

"Viel üben", sagte sie schließlich. "Beharrlich sein und euch nicht abbringen lassen. Von niemandem." Sie war zufrieden mit ihrer Antwort. Sie hatte ihnen zwar wirklich kein Geheimnis verraten, aber solche vermeintlichen Weisheiten wurden gerne genommen. Dann stürmten schon hundert neue Fragen auf sie ein. Wie man denn am besten die Aufnahmeprüfung fürs Konservatorium schaffe, und wie lange sie Karina schon kenne. In dem Augenblick kam ihr dieselbe glücklicher Weise zur Hilfe und wies die Mädchen darauf hin, dass sie Sylvie ja nicht zum letzten Mal sahen und, dass sie den Saal jetzt wieder für die Nächsten frei machen müssten.

Als alle gegangen waren und sie mit Karina alleine im Saal stand, fühlte Sylvie, wie auf einmal die Anspannung aus ihrem Körper wich und der Adrenalinfluss, der sie durch die Probe getragen hatte, verebbte. Ihre Knie begannen zu zittern, ihr war ein wenig schwindlig und sie ließ sich auf einen der Stühle sinken, Karina setzte sich neben sie. Sie hatte sich auf eine Art und Weise verausgabt, wie sie das früher nie getan hätte. Schon gar nicht in einer gewöhnlichen Probe. Sie kramte nach ihrer Wasserflasche und trank dann ein paar große Schlucke, sie fühlte sich ganz ausgetrocknet. Dann wandte sie sich Karina zu. "Du weißt sicher, wo man hier gut essen kann. Das Abendessen geht auf mich. Ich habe einen wahnsinnigen Kohldampf, das kannst du dir nicht vorstellen." Karina nickte nur, lächelte und nahm sie dann bei der Hand.


Wir sind bei Kapitel 50 angelangt und ich vermute, das müsste in etwa Halbzeit sein (ich garantiere aber für nichts - immerhin habe ich angefangen mit dem Gedanken, das könnte eine nette, kurze Novelle sein, die spätestens im Sommer fertig ist, und da sind wir nun mit einer epischen Breite, mit der ich so nicht gerechnet habe.) Also ich hoffe, ihr bleibt weiterhin dabei und hoffentlich seid ihr auch schon gespannt wie es weitergeht ;-)

Zur Feier des Anlasses, und weil es gerade so schön passt, heute mal ein Kapitel mit "Soundtrack". Mögt ihr sowas? Soll ich das öfter machen?

Das Schicksal spielt in Dur und Mollحيث تعيش القصص. اكتشف الآن