39. Kapitel

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Eigentlich, dachte Karina, sollte sie auf Sylvie sauer sein. Und eine Zeitlang war sie das auch gewesen. Sich nicht zu melden, sie so im Ungewissen zu lassen. Karina hatte schon befürchtet, dass Sylvie überhaupt nichts mehr von ihr wissen wollte. Dass sie das Ganze eben nur als Urlaubsflirt oder so etwas betrachtet hatte. Etwas das in dem Moment gerade gepasst hatte, und jetzt nicht mehr. Sie hatte beinahe aufgehört sich Hoffnungen darauf zu machen, dass Sylvie nach Prag kommen würde.

Dann kam alles Schlag auf Schlag und nun stand Sylvie vor ihr. Sie gab sich distanziert und wirkte angespannt. Zwar ließ sie sich umarmen, aber dann machte sie sich auch gleich wieder los. Immerhin lächelte sie und sagte, sie freue sich, hier zu sein. Ja, sie war hier und das war zumindest ein Anfang. Karina wollte dafür sorgen, dass sie wieder auftaute. Wie damals in Turin, nur vielleicht ohne Absinth.

Als sie ihr den Koffer abnahm, streiften Sylvies Finger ihre Hand. Für einen Moment hielt sie sie fest und auch das ließ Sylvie geschehen. Sie bemerkte die dicke Schwiele zwischen Sylvies Daumen und Zeigefinger, die im Sommer noch nicht so ausgeprägt gewesen war. Die Stelle, an der der Hals der Geige auflag. Sie fuhr mit dem Finger über Sylvies Fingerkuppen, wo die Haut viel dicker und ein wenig trocken und schorfig geworden war. Sylvie zuckte verlegen die Achseln.

"Meine Finger sind das nicht mehr gewöhnt", sagte sie beinahe entschuldigend. Sie hatte nur wenige Wochen gehabt, um sich vorzubereiten. Karina wusste, dass Sylvie das Sibelius Konzert früher oft gespielt hatte. Immerhin hatte sie sich über ihre weit verzweigten Kontakte ein paar, zugegeben nicht ganz legale, aber äußerst qualitätsvolle Mitschnitte von Sylvies Konzerten organisiert. Die Aufnahme aus dem Mariinski-Theater in St. Petersburg von vor zwölf Jahren war einfach ein Traum. Bestimmt hatte Sylvie das Konzert nur auffrischen müssen. Allerdings wusste sie auch, dass sie sich nicht zufrieden geben würde, wenn sie es nicht zumindest zu zweihunderfünfzig Prozent beherrschte.

"Du sollst dich mit mir nicht genieren müssen", fügte Sylvie hinzu. "Wie ich dich kenne hast du den Leuten schon das Blaue vom Himmel versprochen, da muss ich zumindest einigermaßen mithalten können, um dich nicht hängen zu lassen." Karina lachte und lehnte ihren Kopf leicht gegen Sylvies Schulter, als sie sich bei ihr einhängte. Für einen Moment hatte Karina das Gefühl, Sylvie würde sie gleich wieder wegstoßen, doch dann spürte sie ihren Arm, der den sanften Druck ihrer Armbeuge erwiderte und Sylvies Schulter, die sich ein wenig näher an ihre drückte.

Sylvie wirkte jetzt so anders als noch im Sommer, damals war alles so unbeschwert gewesen. Sie hatte entspannt und gelöst gewirkt, in Urlaubsstimmung eben, und jetzt verstand Karina, dass sie wohl nicht immer so war. Jetzt hatten sie der Alltag und das Leben eingeholt. Das mit Erik war vermutlich auch nicht gerade leicht für sie und Karina konnte nicht einschätzen, wie sie sich in Bezug auf das Konzert wohl fühlte. Ob sie aufgeregt war? Sie war lange nicht mehr aufgetreten, hatte sich quasi mit Händen und Füßen dagegen gewehrt und jetzt war es doch dazu gekommen. Hatte sie wirklich alleine Erik zuliebe eingewilligt. Oder gab es da nicht vielleicht doch irgendwas in ihr, das da nichts dagegen hatte? Das sich vielleicht sogar irgendwie danach sehnte? Oder waren das nur Karinas eigene Wunschfantasien?

Auf dem Beifahrersitz verhielt Sylvie sich schließlich genau so, wie Karina es von vornherein erwarten hätte können. Sie hatte tatsächlich die Straßenkarte und mögliche Anfahrtswege studiert und gab überall ihren Senf dazu.

"Warum bleibst du nicht auf der Evropská?", fragte sie, als Karina gerade den Blinker setzte. "Das ist die schnellste Strecke, glaub mir."

Karina warf Sylvie einen schnellen Blick zu. Sie fuhr zwar nicht jeden Tag mit dem Auto hier herum, aber man konnte wohl davon ausgehen, dass sie sich zumindest in der Stadt, in der sie wohnte, besser auskannte, als Sylvie, die hier nicht wohnte. Natürlich kannte sie Sylvie gut genug, sodass sie sich sicherheitshalber einen ausführlichen Reiseführer für Prag zugelegt hatte, um nicht auch noch beim Sightseeing von ihr bloßgestellt zu werden. Jitka würde sie dafür ewig auf der Schaufel haben.

"Ist nicht die schnellste Strecke", gab sie schließlich kurz angebunden zurück. "Dort ist nämlich gerade eine Baustelle."

Sylvie begann hektisch auf ihrem Smartphone herumzudrücken. "Komisch", sagte sie. "Das hat mir die Verkehrs-App gar nicht angezeigt."

"Ich hab's selbst gesehen, in Ordnung?", vielleicht klang sie jetzt doch zu genervt, denn Sylvie wirkte nun etwas kleinlaut.

"Tut mir leid", sagte sie. "Ich wollte damit nicht sagen, dass du dich bei dir zu Hause nicht auskennst. Ich wollte nur ..."

Sie wollte die Kontrolle nicht abgeben. Vielleicht war es besser, Sylvie bei der nächsten Autofahrt nach hinten auf die Rückbank zu Erik zu verbannen. Aber dann hätte sie wohl ein Problem mit Jitka bekommen, die sich dann um eine halbe Stunde neben Erik betrogen gefühlt hätte. Die beiden waren schon süß, wie sie da hinten saßen und einander mit ihren Blicken wer weiß was für süße Nichtigkeiten zuwarfen.

"Ist schon gut, Sylvie", sagte Karina dann etwas liebevoller und verwarf den Gedanken, ihre Beifahrerin lieber gleich in den Kofferraum zu stecken. "Sei ganz entspannt, und lass mich nur machen."

Sylvie seufzte etwas ungeduldig. "Du weißt, dass ich das nicht kann."

"Versuch's zumindest. Mir zuliebe."

Sylvie gab einen kurzen Brummlaut von sich. Als Karina einen raschen Blick auf sie warf, sah sie, dass sie das Smartphone in die Tasche steckte, den Reißverschluss zumachte und dann zu versuchen schien, ihre Hände still zu halten, während sie aus dem Fenster blickte, um das Gesehene in sich aufzunehmen, ohne gleich alles zu kommentieren. Es war deutlich, dass sie ziemlich unter Strom stand. Ob ihr später ein Glas Wein dabei helfen würde ein wenig loszulassen? Ob es ihr gelingen würde, sie zumindest annähernd in die Urlaubsstimmung von Turin zurück zu versetzen? Trotz Geigenkonzert und allem?

Karina hatte Glück und fand einen Parkplatz direkt vor dem Haus, in dem die Wohnung lag, in der sie Sylvie und Erik für die Woche einquartiert hatte. Ein ehemaliger Studienkollege, der momentan für eine Weile im Ausland war, vermietete währenddessen seine Wohnung in Prag zeitweise an Gäste. Jedenfalls war das ein willkommener Zufall, denn so eine Musikerwohnung war einem Hotelzimmer in jedem Fall vorzuziehen. Es gab ein Klavier und Nachbarn, die entweder ohnehin schwerhörig waren, oder daran gewöhnt, dass geübt wurde. Der Kollege Wohnung gehörte, war immerhin Posaunist. Da kamen Sylvie und Erik mit Violine und Klavier nur schwer dagegen an.

Sie entluden das Auto und Karina befolgte alle notwendigen Schritte, um sich aus dem Carsharing-System auszuloggen. Das mit dem Auto war Jitkas Idee gewesen, aus Rücksicht auf Erik, den sie keinen unnötigen Strapazen aussetzen wollte, und natürlich wollte sie ihn so frisch und munter wie möglich bei sich haben.

Sie betraten das alte Stiegenhaus, in dem es nach Gemüsesuppe roch und packten Jikta und Erik samt Koffer in den Aufzug. Erik sah aus, als wollte er protestieren, aber das nützte ihm natürlich nichts. Er würde sich daran gewöhnen müssen, dass zumindest Jitka und Sylvie versuchen würden, ihm jeden Kieselstein aus dem Weg zu räumen. Nun ja, Sylvie tat das vermutlich schon seit längerem.

Die Wohnung lag im zweiten Stock, trotzdem waren Sylvie und Karina schneller oben, als der alte, klapprige Aufzug. Es handelte sich um eine gemütliche Altbauwohnung mit hohen freundlichen Räumen, der erste Raum war ein geräumigeres Wohnzimmer mit Kochnische, an das auf der einen Seite das Schlafzimmer, auf der anderen das Bad anschlossen. Während Sylvie sofort den Koffer zum Auspacken in den Nebenraum zog, steuerte Erik, ohne zu zögern, das an der Wohnzimmerwand stehende Klavier an, um es auszuprobieren. Er schlug einige Akkorde an, die ganz nach der Elegie von Vítězlava Kaprálová klangen. Jitka quittierte dies mit einem Laut der Begeisterung und landete sofort neben ihm auf der anderen Hälfte des Klavierschemels und nun spielten sie zusammen, jeder mit einer Hand. So waren die beiden wohl für die nächste Zeit beschäftigt, und Karina folgte Sylvie ins Schlafzimmer.

Das Schicksal spielt in Dur und MollOù les histoires vivent. Découvrez maintenant