115. Kapitel - Der Brief aus Kopenhagen

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Es dauerte noch einige Wochen bis Karina endlich den Brief in der Post hatte. Es war ihr bis dahin nicht schwer gefallen sich mit Arbeit abzulenken. Zur Zeit gab es jede Menge Proben, Konzerte und sonstige Auftritte bei Faschingsbällen und dergleichen. Das Repertoire bei solchen Veranstaltungen wiederholte sich zwar immer wieder und wirklich Neues oder Überraschendes war dabei kaum zu entdecken. Es waren Auftritte, bei denen die jungen Musiker Routine sammeln konnten. Sie schärfte allen ein, vor allem auch sich selbst, dass die immer gleichen Walzer und Polkas auch beim gefühlt hundertundsiebenundzwanzigsten Mal noch so frisch klingen mussten, als wären die Noten gerade erst vom Himmel auf ihre Pulte gerieselt.

Eines Abends kam sie von der Probe und fand ein unscheinbares weißes Kuvert vom Dänischen Rundfunk in ihrem Briefkasten. Sie seufzte und versuchte sich einzureden, dass das alles heißen konnte. Dass es gar nichts bedeutete, dass man sie nicht telefonisch verständigt hatte, um gleich alles Weitere zu bereden. Wurde man überhaupt angerufen? Vielleicht hatte man sich ja noch gar nicht entschieden und es würde noch eine Runde geben. Noch eine Gelegenheit, um nach Kopenhagen zu fahren. Es war ohnehin immer so schwierig, mit Sylvie in Abwesenheit Kontakt zu halten.

Doch spätestens nachdem sie den Umschlag mit einem Küchenmesser aufgeschlitzt hatte, waren ihre Hoffnungen dahin. Es war eine gewöhnliche Absage. Man bedanke sich für ihre Bewerbung, sowie ihren Einsatz und werde sie bis auf Weiteres in Evidenz halten. Theoretisch war es noch möglich, dass der Kandidat oder die Kandidatin, die das Rennen gemacht hatte, einen Rückzieher machte. Wenn ein besseres, ein lukrativeres Angebot daherkam. Aber die Chance darauf war gering. Auch wenn sie noch weitere Bewerbungen am Laufen hatte, so wäre Kopenhagen perfekt gewesen. Mehr als perfekt. Immerhin hatte sie ihre Hoffnungen auf eine Zukunft mit Sylvie daran geknüpft. Oder zumindest die Chance, ausprobieren zu können wie es mit Sylvie sein konnte, wenn sie mehr als nur einen kurzen Urlaub zusammen verbrachten. Wenn sie ihren Alltag mit ihr teilen konnte.

Sie versuchte, nicht allzu enttäuscht zu sein. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass man genommen wurde, nur weil man sich bewarb. Man wusste nicht, weshalb man nicht genommen wurde. Vielleicht hatten die anderen Kandidaten tatsächlich die besseren Voraussetzungen mitgebracht. Vielleicht hatten sie etwas ganz anderes gesucht, als das was Karina zu bieten hatte. Vielleicht war alles bereits ausgemacht gewesen und man hatte das Bewerbungsprozedere nur veranstaltet, da eine öffentliche Ausschreibung gesetzlich vorgeschrieben war. Die letzte Variante war besonders frustrierend, aber nicht unüblich.

Sie wusste, die Erste, die davon erfahren sollte, musste Sylvie sein. Doch aus irgendeinem Grund schreckte sie davor zurück, sie anzurufen. Also schenke sie sich ein Glas Rotwein ein und rief erst einmal Jitka an. Von ihr würde sie eher die mitfühlende Reaktion bekommen, auf die sie jetzt hoffte. Vielleicht war es Sylvies Reaktion, vor der sie sich scheute oder ihre Nicht-Reaktion. Sie wusste nicht, was sie sich wirklich von ihr erwartete.

„Ich kann nicht einmal sagen, dass ich froh darüber bin, dass du hier bleibst", sagte Jitka, als sie am nächsten Abend zusammen in Karinas Wohnzimmer saßen. Durch Zufall hatten beide gleichzeitig einen freien Abend, das mussten sie ausnutzen.

„Immerhin wollte ich ja auch früher oder später nach Kopenhagen und es wäre so dermaßen genial, wenn wir alle zusammen dort sein könnten." Karina nickte. Die beste Freundin dabei zu haben, sodass sie sich immer noch jederzeit treffen, alles bequatschen und sich notfalls auch ausheulen konnten, war eine schöne Vorstellung gewesen. Vielleicht von vornherein nicht besonders realistisch, aber auch sie hatte sich das weniger kompliziert vorgestellt.

Für Jitka war es vermutlich einfacher zu gehen, dachte Karina. Rein theoretisch zumindest. Sie war nicht davon abhängig eine Anstellung zu finden. Unterrichten konnte sie hier und dort und sie würde vermutlich auch in Dänemark Engagements und Auftrittsmöglichkeiten finden. Abgesehen davon hatte sie jetzt immer öfter Auftritte im Ausland und Konzertreisen, da spielte es keine Rolle, ob sie nun in Prag oder sonst wo in Europa wohnte. Aber natürlich war die Sache auch bei Jitka noch nicht spruchreif. Erik hatte vor einer Woche mit der Reha begonnen, es würde noch ein wenig dauern, bis die beiden weiter in die Zukunft planten. Außerdem hing Jitka vermutlich mehr an ihrem Zuhause und ihrer Familie, als Karina das tat. Es würde ihr schwerer fallen die Zelte hier abzubrechen.

„Vielleicht ergibt sich wieder einmal etwas. Es gibt schließlich mehrere Orchester in Dänemark und ich habe gehört, dass möglicherweise bald einmal an der Oper von Malmö jemand gesucht wird. Von dort ist es auch nur ein Katzensprung nach Kopenhagen", überlegte Karina laut. „Außerdem, wenn ich mich nicht darauf versteife eine Position als Dirigentin zu finden, dann hätte ich mehr Möglichkeiten. Schließlich könnte ich auch unterrichten, oder mich irgendwo als Cellistin bewerben. Vielleicht stünden die Chancen dann besser ..."

„Aber dann schmeißt du alles hin, was du dir bisher erarbeitet hast", erwiderte Jitka und schüttelte energisch den Kopf. „Ist dir Sylvie das wert?"

„Das kann ich jetzt noch nicht wissen", sagte Karina und kaute versonnen einen Olivenkern ab. Das würde sie schließlich dann erst feststellen können. Natürlich konnte es sein, dass sie das Experiment nach ein paar Wochen oder Monaten abbrach. Wenn sie feststellte, dass es mit Sylvie überhaupt nicht auszuhalten war. Aber das glaubte sie nicht.

„Wer weiß denn schon, ob sie mich woanders als Dirigentin nehmen. Ich kann mich schließlich nicht auf jede Stelle in der ganzen Welt bewerben." Solche Bewerbungen waren immerhin recht aufwendig, zeitmäßig und auch in finanzieller Hinsicht. Vor allem wenn man in die engere Auswahl kam, zum Vorspielen irgendwohin reisen, Reise- und Übernachtungskosten berappen musste und dann doch nicht genommen wurde. Tatsache war auch, dass sie, um in Form zu bleiben, besser zu werden und Erfahrungen zu sammeln nun einmal eine Stelle brauchte. Als Instrumentalist konnte man zu Hause üben, aber ein Orchester konnte sie sich nicht einfach so in die Wohnzimmerecke stellen, wie ein Cello.

Sie seufzte kurz. „Nun ja, wir werden sehen", sagte sie. Vielleicht würde es irgendwann an der Zeit sein zuzugeben, dass ihr Traum einmal eine berühmte Dirigentin zu werden, ein Rollenvorbild und eine Inspiration für alle Mädchen, die auch Dirigentin werden wollten, so nicht aufgehen würde. Oder hatte sie es mittlerweile ohnehin schon aufgegeben davon zu träumen? Weil dies nun ihren anderen Träumen im Weg stand? Dem Wunsch herauszufinden, ob sie mit Sylvie glücklich werden konnte? Sie wusste jetzt schon, dass es vielleicht nicht leicht sein würde, aber sie musste es doch versuchen. Sie würde es bereuen, wenn sie es nicht tat.

Nachdem Jitka gegangen war, schrieb sie Sylvie eine kurze Nachricht: „Bist du noch wach?", fragte sie. „Ja", kam die knappe Antwort und so rief sie kurzerhand bei ihr an. Sie erzählte Sylvie von dem Brief und daraufhin blieb die Leitung erstmal eine Weile lang still.

„Hm", kam es dann von Sylvie. „Da kann man wohl nichts machen."

„Das ist alles, was dir dazu einfällt?", fragte Karina und merkte, dass sie dabei etwas verärgert klang. Das war unfair, aber sie war im Moment einfach enttäuscht. Nicht von Sylvie, sondern von der ganzen Situation. Vor allem von sich selbst.

„Was willst du hören?", gab Sylvie zurück. „Dass das lauter Banausen sind?"

„Naja, vielleicht."

„Dann weißt du es doch. Wäre ich in der Jury gesessen ich hätte dich genommen, und das weißt du. Vielleicht waren die Begleitumstände nicht die Besten. Das mit Erik ... du hattest vermutlich alles mögliche im Kopf. Und ich habe es dir auch nicht besonders leicht gemacht, dich auf dein Vorspielen zu konzentrieren ..."

„Aber verkackt habe ich es trotzdem."

„Na und? Dann probierst du was Anderes. Es war nicht die einzige Option."

„Aber es war die Beste, die wir hatten."

„Jetzt hör einfach auf herumzujammern, das hat doch keinen Sinn."

Nein, vermutlich hatte es wirklich keinen Sinn zu jammern. Karina wusste selbst nicht, warum sie sich jetzt so benahm. Sie hatte geglaubt, sie hätte sich mit der Absage abgefunden. Aber offensichtlich hatte sie das nicht. Warum hatte sie sonst den Anruf bei Sylvie einen ganzen Tag lang aufgeschoben? Warum war es einfacher, mit Jitka darüber zu reden, als mit Sylvie? Sie kannte die Antwort. Man brauchte wohl einigen Mumm, um Sylvie gegenüber eine Niederlage zugeben zu können. Sie hatte plötzlich das Gefühl vor Sylvie nicht bestehen zu können. Sie wusste, das war vollkommen idiotisch. Vielleicht konnte sie auch vor sich selbst nicht bestehen.

All diese hochfliegenden Pläne, die sie ständig hatte ... Vielleicht war es an der Zeit sich endlich einmal realistischen Zielen zuzuwenden. Vielleicht war es auch nur an der Zeit sich noch ein Glas Rotwein einzugießen, sich anschließend unter der Bettdecke zu verkriechen und darauf zu hoffen, dass ihr die nächsten Wochen dennoch irgendwie neuen Mut oder irgendeinen ebenso genialen wie absurden Einfall bescheren würden, um hier von der Stelle zu kommen.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWhere stories live. Discover now