83. Kapitel: Duett oder Solo?

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Erik merkte, dass Jitka ihn vorsichtiger berührte als sonst. Nicht weniger liebevoll, aber so als hätte sie Angst, er könne kaputtgehen, wenn sie ihn zu fest umarmte. Dafür drückte er sie umso inniger an sich und freute sich, ihr glucksendes Lachen zu hören und ihre Hand in seinem Gesicht zu spüren.

Was Sylvie ihr auf dem Weg hierher wohl alles erzählt hatte? Ob sie ihr eingeschärft hatte, dass sie nur ja behutsam mit ihm sein sollte, ihr Instruktionen geliefert, wie sie mit ihm umzugehen hatte? Sylvie war so etwas zuzutrauen und sie meinte es ja gut. Er würde es schließlich nie erfahren und für ihn spielte es keine Rolle, was sie nun über ihn redeten. Er würde Jitka schon selbst zeigen, dass er so leicht nicht kaputt zu kriegen war. Im Moment fühlte er sich jedenfalls so. Die paar Unpässlichkeiten, die sich auch in guten Momenten nicht ignorieren ließen, bestärkten ihn nur darin. Er wusste, dass es schnell wieder anders sein konnte und die beste Strategie damit umzugehen, war einfach nicht zu viel drüber nachzudenken und die guten Phasen zu nützen. Er wollte solche Augenblicke genießen und sich von ihnen wie auf einer Welle weitertragen lassen. So lange Jitka hier war, konnte er sich nicht so schnell in negativen Gedanken verheddern, so wie ihm das zuletzt immer wieder passiert war.

Hoffentlich konnte er auch verhindern, dass sich Jitka allzu sehr von Sylvie nervös machen ließ. Sylvie war immer noch sein Rettungsanker. Sie hatte ihn immer wieder aufgefangen und festgehalten. Sie war die ganze Zeit für ihn da gewesen und er wusste, dass sie bereit war so ziemlich alles für ihn zu tun. Aber sie konnte für ihn nicht die Zeit anhalten und ihr ganzes Leben stillstehen lassen. Manchmal wünschte er sich, sie würde einmal nein sagen, wenn er sie um etwas bat. Aber das tat sie nicht. Und es gab Momente, in denen er sich davon unglaublich provoziert fühlte und in denen er ihren stummen Pessimismus kaum aushielt. Und diese ruhige, ungerührte Fassade, die sie immer noch aufrecht erhielt. Manchmal wollte er diese Fassade einfach nur einreißen, um das zu befreien, was dahinter lag. Aber er prallte immer nur daran ab. Und vielleicht fürchtete er sich ja auch ein wenig vor dem, was er damit befreite.

Doch jetzt saß Sylvie mit einem entspannten Lächeln neben Karina am Küchentisch. Er bemerkte auch, dass auch seine Mutter kurz mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zu den Beiden hinübersah.

„Was meinst du?", flüsterte er ihr zu, als sie zusammen die Teetassen herrichteten. „Wie gefallen dir Jitka und Karina?"

„Ich kenne die zwei doch erst seit kaum fünf Minuten", sagte seine Mutter und lachte. „Aber du und Sylvie, ihr werdet schon keinen schlechten Geschmack haben. Da verlass ich mich drauf."

Er nickte zufrieden und sie stellten den anderen Tee und Kekse hin und natürlich die Teetassen dazu. Anschließend wurden Mitbringsel und Geschenke ausgetauscht. Die beiden hatten seiner Mutter eine Flasche Becherovka und eine schöne mit Weihnachtsbäckerei gefüllte Kristalldose gebracht. Jitka hatte sie in ihre Wollpullis eingewickelt in ihrem gepunkteten Handgepäckskoffer transportiert.

„Leider nicht selbst gebacken, für sowas habe ich leider kein Talent", kommentierte Karina. Es waren wirklich ganz viele verschiedene winzig kleine hübsch anzuschauende Kekse.

„Ich habe welche gebacken," warf Jitka ein. "Die mit dem goldrosa Glitzerstreusel drauf sind von mir, aber die anderen sind alle aus unserer Lieblingsbäckerei."

Er selbst bekam von Jitka ein in hübsches Geschenkpapier gewickeltes, weiches Päckchen und packte ein paar dicker Socken und Handschuhe aus.

„Greif in die Socke hinein", forderte Jitka ihn auf. Er fuhr mit der Hand in die angenehm flauschig gefütterte Socke und ertastete etwas Hartes. Er zog die Hand heraus und hielt einen kleinen, schwarz-weißen Violinschlüssel aus Plastik in der Hand. Er ließ sich auseinandernehmen.

„Oh, ein Usb-Stick?"

„Ich habe versucht, ihn gut zu füllen. Falls du das Rachmaninoff-Konzert irgendwann nicht mehr hören kannst. Karina hat auch ein paar Raritäten aus ihrem streng geheimen Archiv beigesteuert."

„Ja, wir dachten, du könntest etwas musikalischen Proviant gut gebrauchen", sagte Karina.

„Was für Raritäten?", fragte Sylvie, die jetzt auch neugierig geworden war. Hatte Karina wohl einige von Sylvies alten Aufnahmen aufgestöbert? Er hatte Jitka einmal erzählt, dass er Sylvies Violinkonzert oft hörte. Immer wenn ihm gerade nicht der Sinn nach Klavier stand.

„Was immer da drauf ist, es wird mir die Zeit verkürzen", sagte er und umarmte sie alle zwei. Das war wirklich ein schöner Gedanke von ihnen gewesen. So aufmerksam. Jitkas Konzerte hatten ihn durch die letzten Wochen begleitet und so oft getröstet. Er fürchtete, dass im mehr davon bald sehr gelegen kommen konnte und das schienen Jitka und Karina auch zu wissen.

Als Nächstes holte er die beiden aus Geschenkpapier gefalteten Kuverts von ihrem Platz im Bücherregal, wo er sie bereitgelegt hatte.

„Ich bin dieses Jahr nicht wirklich zum Einkaufen gekommen, deswegen gibt's was Selbstgemachtes", erklärte er und überreichte ihnen die Kuverts mit Weihnachtsherzen als Geschenkanhänger. Ein Herz in rot und grün mit einem Cello für Karina, und ein rot-weißes mit Schwan für Jitka. Sie zogen die Klarsichthüllen mit den Noten aus den Umschlägen und er konnte sehen, wie ihre Augen sich neugierig weiteten.

„Deines, Karina, hat noch eine zweite Stimme dabei, für Violine. Ich finde, ihr solltet öfter zusammen spielen", sagte er und sogleich steckte auch Sylvie ihre Nase in die Noten. Es war leider nur ein kurzes Stück, er hatte nicht mehr die Energie für etwas Längeres gehabt.

„Meines ist nur für zwei Hände", sagte Jitka und klang dabei fast enttäuscht. „Oder hast du deine Hälfte separat notiert?" Sie blickte etwas ratlos in die Noten, die sie bekommen hatte.

„Das ist ein Solo", sagte er. „Schließlich hast du mich auch nicht immer im Handgepäck dabei."

„Naja, schön wäre das schon, wenn ich dich einfach überallhin mitnehmen könnte."

„Ich weiß", sagte er. „Aber in nächster Zeit geht das eher nicht so. Irgendwann ..." Er hatte ihr dieses Stück auch im Hinblick darauf geschrieben, dass sie einander vermutlich länger nicht sehen würden. Dann konnte er doch irgendwie bei ihr sein. Auch wenn er es nicht war. Sie konnte das Stück spielen und ein Teil seiner Gedanken wäre bei ihr, wenn sie das wollte. Vielleicht war es auch eine alberne Idee, die hatte er in letzter Zeit ja häufiger. Doch er hatte seine ganze Zuversicht und Liebe in diese Noten gelegt und er hoffte, dass sie das auch spüren würde, wenn sie es spielte. Dass die Zuversicht dann auf sie übersprang. Er spürte jetzt ihren Arm um seine Schulter und wie sie ihn küsste.

„Danke", sagte sie. „Ich kann es nicht erwarten, das auszuprobieren."

„Solange du hier bei mir bist, fällt mir bestimmt auch was ein, das ich dazu spielen kann", sagte er mit einem Augenzwinkern und sie strahlte ihn wieder an.

„Ohne Noten spielst du ohnehin noch besser als mit", sagte sie. Damit stand sie auf und zog ihn zum Klavier.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWhere stories live. Discover now