Kapitel 19

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Ich lief einige Minuten oder vielleicht auch Stunden. Ich weiß es nicht. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren und meine Füßen tuen schon vom ganzen Laufen weh, da ich auch keine Schuhe trage. Er hat mir nicht mal die Zeit gelassen, meine Schuhe an zu ziehen.

Einige Passanten werfen mir komische Blicke zu, da ich bestimmt grauenhaft aussehe und nur mit Socken die Straßen durchquere. Aber es ist mir egal, das ist nämlich grad meine geringste Sorge.

Endlich komme ich an einer Bushaltestelle an und ich sehe mir den Fahrplan an. Ich sehe, dass ein Bus in der Nähe von meinem alten zu Hause anhält.

Zu Hause.. war es denn noch mein zu Hause?. Nein.

Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schock. Ein Ort an dem ich meine ganze Kindheit verbracht habe, ist nicht mehr mein zu Hause. Dieser Ort, an dem ich mich am wohlsten gefühlt habe.. Wir Menschen schätzen manche Dinge erst dann, wenn wir sie verloren habe..

Ich erinnere mich aber daran, dass in der Nähe meine beste Freundin Elif wohnt, nur ein zwei Blöcke weiter. Vielleicht würde sie mich aufnehmen?. Aber was wenn sie mich auch abstößt, da mein Bruder ihr alles erzählt hat und ich mich bei ihr nie gemeldet habe?. Ich schlucke den großen Hals in meinem Hals herunter und schüttele leicht meinen Kopf. Ich habe keine andere Wahl, sonst lande ich auf der Straße und muss auf irgendeiner Bank in einem Park übernachten.

Der Bus kommt nach etlichen Minuten an und mir wird erst jetzt bewusst, dass ich doch kein Cent bei mir habe und somit mir kein Ticket leisten kann. Aber laufen könnte ich auch nicht, da unser Viertel viel zu weit weg von hier ist. Vielleicht hat der Mann Mitleid?.
Ich steige mit einem unguten Gefühl vorne ein und sofort guckt der Busfahrer mich auffordernd an, damit ich mein Ticket zeige oder eins kaufe.

"Ihr Ticket?" fordernd er dann und zieht eine Augenbraue in die Höhe.

"Eh ic-h" stammele ich aber kriege leider gottes keinen richtigen Satz zu Stande.

Was wollte ich ihn auch für eine Begründung geben?.

"Entweder sie kaufen sich ein Ticket oder steigen wieder aus" sagt der Mann dann ungeduldig und guckt mich genervt an.

Ich beiße auf meine Unterlippe und fühle mich unwohl in meiner Haut, da mich auch ein paar Fahrgäste komisch mustern. Ihre Blicke bleiben meistens an meinen Füßen stehen.

Ich hasse dich Emir.

"Ich nehme sie auf meinem Ticket mit" ertönt dann eine unbekannte tiefe Stimme hinter mir, weshalb ich nach hinten gucke.

Ich erblicke blau-graue Augen die mich angucken und es schleicht mir ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Seine braunen Haare liegen ihn zerstreut über den Kopf und als er mein Lächeln erwidert, erblicke ich ein Grübchen auf seiner rechten Wange.

"Danke" bedanke ich mich und setze mich dann auf einen freien Platz hin.

Ich bin diesem Fremden unheimlich dankbar, da er mich vor dieser unangenehmen Situation befreit und mich einfach so mitgenommen hat. Ich kriege noch vom Augenwinkel mit, wie er sich ein Sitz weiter setzt und mir ab und zu Blicke zu wirft.

Ich lehne mich mit meinem Kopf langsam an die Scheibe und schließe für einen kurzen Moment die Augen. Erst jetzt bemerke ich so richtig, wie erschöpft und müde ich doch bin.
Ich möchte einfach nur schlafen. Viel schlafen und am besten nie wieder mehr aufstehen, um
vor all meinen Problemen und Herausforderungen zu fliehen.
Ich mache mir auch Gedanken, ob Elif und ihr Bruder Kaan nicht umgezogen sind. Ich könnte es mir nicht vorstellen, da sie das Haus von ihren Eltern geerbt haben, die ebenso nicht mehr leben. Kaan arbeitet auch in der Firma von meinem Bruder, da sie genauso wie Elif und ich beste Freunde sind. Wir vier sind gemeinsam aufgewachsen und hatten eine tolle Kindheit. Wir haben so viel scheiße zusammen gebaut und waren unzertrennlich...

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