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Sechs Wochen ist es her, dass ich im Pandemonium in den Armen eines Fremden lag und versuchte den Schmerz in meinem Herzen mit Alkohol und unbedeutendem Sex zu  betäuben. Noch immer ist dieser Schmerz omnipräsent, aber die Erinnerung an den Abend ist mal wieder leicht verschwommen. Es gibt keinen totalen Blackout wie nach unserer Nacht in Las Vegas. Aber gewisse Einzelheiten bleiben auch hier im Dunklen. Ich fühle mich so mies wie seit vielen Jahren nicht mehr. Mein Herz sehnt sich nach Alec. Mit jedem vergangenen Tag nimmt diese Sehnsucht zu und der Schmerz frisst mich langsam und qualvoll von innen auf. Jeden Tag denke ich darüber nach, wann es begonnen hat aus dem Ruder zu laufen. Wir haben einander so viel gegeben. Und doch hat es nicht gereicht.

Ich erinnere mich an seine liebevollen Worte und meine Zweifel. Spüre Alecs uneingeschränkte Liebe und meinen Zorn, als die Bitternis in ihrer Reinform plötzlich und unerwartet in meinem Haus stand. Jeden Tag hat mein Vater versucht Kontakt zu mir aufzunehmen. Alec muss ihm meine Nummer gegeben haben. Und meine Wut rauschte erneut mit unbändiger Geschwindigkeit heran. Bis zu dem Tag, als ich die Kontrolle verlor und nur noch in mein Telefon schrie. Das kleine schwarze Plastikgerät landete nach einem Ausbruch meiner Gefühle an der Wand neben dem Bücherregal welches Alec für mich baute. Ich schrie und tobte, schlug mit den Fäusten auf einen imaginären Körper ein und versuchte meinen Schmerz mit Whiskey zu betäuben. Ohne Erfolg.

Die Erinnerung an Alec, der weinend im Türrahmen stand und verzweifelt seinen Körper umklammerte, verfolgt mich bis in meine Träume. Jede Nacht läuft ein Film in meinem Kopf ab. Mein Unterbewusstsein projiziert Bilder aus glücklichen Tagen und flutet meine Rezeptoren mit Glückshormonen. Jede Nacht seit sechs Wochen erlebe ich verschiedene Momente unserer ungewöhnlichen Beziehung immer wieder. Immer bin ich glücklich und so wahnsinnig verliebt in Alec. Gemeinsam stehen wir am Strand von Blue Heaven, halten uns an den Händen und schreien unsere Liebe dem tosenden Meer mit weißen gischtbeladenen Wellen entgegen. Wir sind glücklich und fühlen uns wie die Könige der Welt. Und dann geschieht der Moment, wo der Himmel sich verdunkelt, schwarze Wolken sich vor die strahlend heiße Sonne schieben und ein eisiger Wind durch unsere Haare weht. Schmerz und Leid durchflutet nun meine Rezeptoren und locken die Finsternis hervor. Bewegungsunfähig muss ich dabei zusehen, wie Alec meine Hand aus seiner entlässt und leuchtend grelle Blitze den Himmel teilen. Sie zerreißen die Dunkelheit und sind doch ein Synonym für unser Sein. Gespalten, zerrissen, in Flammen stehend und heillos verloren. Jede Nacht muss ich wieder den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit durchleben. Mit jedem Donnergrollen und folgendem Zucken eines Blitzes entfernt Alec sich ein Stück von mir. Aus müden verweinten Augen blickt er mich an und seine wunderschönen bebenden Lippen formen nur ein Wort. In stetiger Wiederholung hallt es in meinen Ohren wieder. 'Warum?'

Zitternd und schweißgebadet wache ich jede Nacht auf und blicke auf die andere Seite des Bettes. Alec ist nicht da und so langsam verliere ich den Glauben daran, dass er jemals wieder zurückkommen wird. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Solange Alec seine Sachen nicht aus unserem Zuhause holt, ist noch nichts verloren. Daran muss ich glauben.
Nachdem Alec mich weinend im Hausflur zurück ließ, saß ich stundenlang auf dem kalten harten Steinboden und bettete meinen Kopf an das Holz der Wohnungstür. Mir war übel und ich fror. Alles drehte sich und der Versuch meine zu schnelle Atmung unter Kontrolle zu bekommen scheiterte kläglich. Immer wieder verfiel ich in heftigen Weinanfällen und mein Schluchzen hallte laut im Haus wieder. Ich erwachte mit schmerzendem Kopf und von der Kälte steifen Gliedern auf den Stufen vor meinem Haus. Blackout. Zumindest für eine Weile. Ich erinnere mich nicht. Mal wieder. Irgendwie bin ich von Brooklyn in mein Haus gekommen. Wahrscheinlich eine Taxifahrt, denn zum Laufen ist es eindeutig zu weit.

Es war noch dunkel als ich über die Schwelle meines Hauses trat und der vertraute Geruch meines Mannes mich liebevoll empfing. Nur war es das Letzte was ich wollte. Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen und auch mein Magen war der Meinung, dass es reichte. Ich schaffte es nicht rechtzeitig ins Bad und verteilte den Inhalt meines Magens auf den Dielen vor der Treppe. Eine Mischung aus klarem Wodka und gelb-grünlich schimmernder Magensäure breitete sich fließend über dem Fußboden aus. Der Anblick verursachte eine neue Welle des Unwohlseins. Auch dieses Mal war ich nicht schnell genug und entschied mich kurzerhand dafür, die aufsteigenden Überreste in meinem Mund zu sammeln. Selten hatte ich mich so beschissen gefühlt. Dass sich der Inhalt meines Magens in meinem Mund sammelte war mir äußerst unangenehm und ich schämte mich für mein Verhalten. Erschöpft sackte ich vor der Toilette zusammen und legte meinen Kopf auf dem geschlossenen Deckel ab. Das kühle Plastik war eine kurzzeitige Linderung für meine erhitzten Wangen. Zum Glück sah mich niemand so. Seufzend schloss ich meine Augen und überlegte kurz einfach nie wieder aufzustehen. Aber ich entschied mich dagegen. Stoisch reinigte ich den alten Dielenfußboden und schleppte meinen betrunkenen, schmerzenden Leib die Treppe nach oben in unser Schlafzimmer. Jede Faser meines Körpers sträubte sich dagegen mich in die Laken zu legen, in denen Alec und ich Sex hatten. Doch die Müdigkeit übernahm die Kontrolle über meinen Körper und ich schaffte es gerade noch so die Schuhe von meinen Füßen zu streifen, bevor ich ermattet vornüber auf das Bett fiel.

Zwei Tage verbrachte ich in meinem komatösen Zustand. Ich aß kaum etwas und trank noch weniger. Mein Telefon klingelte ununterbrochen. Aber es war nicht Alec, sondern Raphael. Und wenn es nicht Raphael war, dann erschien Andrews Name auf dem Display. Oder eine mir unbekannte Nummer von der ich wusste, dass es mein Vater war. Ich war ihnen allen eine Erklärung schuldig, dessen war ich mir bewusst. Doch ich schaffte es nicht. Ich war müde, ausgelaugt und verletzt. In einem Zustand voller Leid und Schmerz verfasste ich mehrere Nachrichten an Alec. Er las jede einzelne. Fast zeitgleich mit dem Abschicken, wechselten die beiden Haken von grau auf blau. Aber eine Antwort bekam ich nicht. Noch heute warte ich auf eine Nachricht oder einen Anruf. Doch nichts geschieht. So vergeht Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche.

Am frühen Nachmittag des letzten Tages im Jahr stand ein wütender Raphael in meinem Schlafzimmer. Andrew zog die Vorhänge schwungvoll auf und ich fühlte mich wie ein Vampir, der von Professor Abraham van Helsing gefunden und dem todbringenden Sonnenlicht übergeben wurde. Lautstark schrie ich Andrew entgegen, dass er sofort die Vorhänge wieder schließen sollte. Mein bester Freund dachte an alles mögliche, nur nicht daran. Gemeinsam prügelten sie mich aus dem Bett und unter die Dusche. Ich weiß bis heute nicht so genau, warum ich mich dem ergab. Minutenlang stand ich unter dem heißen Strahl, das Wasser lief unaufhörlich über meinen Körper und vertrieb die Kälte in meinem Herzen nicht mal ansatzweise. Meine Gedanken wanderten zu Alec und dem Sex, den wir hier hatten. Auch nach der Dusche ging es mir nicht besser, selbst der wohlduftende Braten und die goldgelben Kartoffeln konnten nichts an diesem Umstand ändern.
Nach einer Standpauke die sich gewaschen hatte und einer eher lieblosen Entschuldigung meinerseits redeten wir über das was geschehen war. Es tat ihnen leid und doch waren sie mehr bei Alec als bei mir. Ich konnte sie verstehen. Andrew hatte sich schreckliche Sorgen um mich gemacht und Raphael konnte ihn einfach nicht beruhigen. Daher beschlossen sie nach dem Rechten zu sehen. Ich war also noch am Leben und irgendwann ließen sie mich wieder alleine. Es kostete mich allerdings sämtliche Überredungskunst die ich hatte. Andrew war sehr skeptisch und  nahm mir das Versprechen ab mich zu melden, sobald es nicht mehr ging.

Wenige Minuten vor Ende des Jahres torkelte ich mit einem Glas Whiskey in der Hand auf die Terrasse und blickte in die Dunkelheit. Innerlich versuchte ich den Countdown herunter zu zählen, aber auch hier scheiterte ich kläglich. Tränen waren mein neuer Partner. Ich versuchte gar nicht erst sie aufzuhalten. Wie einen alten Freund begrüßte ich jede einzelne. Seit Wochen heule ich mir die Augen aus dem Kopf und besonders schlimm sind dabei die langen kalten und einsamen Nächte.

"Happy New Year Alexander", flüsterte ich und blickte aus tränenverhangenden Augen in den trüben Nachthimmel. Feuerwerkskörper in allen möglichen Größen und Formen stiegen zischend zu den Sternen hinauf um dort zu zerplatzen. Donnerhall zerriss die Stille und die Finsternis wurde für den Bruchteil weniger Minuten durch alle möglichen Farben vertrieben. Ich sah leuchtend helle Sterne und Funkenregen, brizzelnde Schleier in roten und grünen Farben und bei jedem Knall zuckte ich erschrocken zusammen. Die dünne Stoffhose hielt nicht mal ansatzweise die eisige Kälte von meinem Körper fern. Ein verwaschener schwarzer Hoodie mit löchrigen Armbündchen wärmte meinen Oberkörper, jedoch traf auch hier die Kälte auf keinerlei Gegenwehr und durchdrang mühelos den dicken Stoff und meine Haut. Mit nackten Füßen stand ich auf der Terrasse in meinem Garten und beobachtete den Himmel, wie er sich in die schönsten Farben kleidete und zum Tanzen einlud. Meine Gedanken waren unablässig bei Alexander und ich weinte dicke Tropfen voll heißer Tränen. Erst nachdem der letzte Donnerschlag verklungen, sich die Kälte schmerzend in jeder Faser meines Körpers niedergelassen hatte und ich am Ende meiner Kräfte war, ging ich ins Haus. Jeder Schritt tat weh. Dennoch schaffte es der Schmerz in meinen Muskeln nicht, die Qual in meinem Herzen, zu besiegen.

What happened in Vegas - Plötzlich verheiratetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt