Kapitel 1 - Ein besonderer Morgen

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[Fred]


»Fred! Freddie!« Unsanft wurde der Junge aus dem Schlaf gerissen. Einen Augenblick noch versuchte er sich an seinen Traum zu klammern – er war auf einem riesigen Drachen über ein großes Schloss geflogen – doch die unbarmherzige Hand seiner Mutter rüttelte so lange an seiner Schulter, bis er unwirsch die Augen öffnete.

»Was?«, fauchte er schlecht gelaunt. Er hatte keine Ahnung, wie früh es war, aber die Dunkelheit vor seinem Fenster machte eindeutig, dass es zu früh war.

Als seine Mutter bemerkte, dass er wach war, setzte sie sich auf seine Bettkante und strich ihm sanft über die Wange. »Du musst aufstehen«, sagte sie sanft. »Es geht los.«

»Was geht los?«, knurrte der Junge, der immer noch zur Hälfte in seinem Traum hing.

»Hogwarts. Dein erster Tag. Deine Schwester ist schon seit einer Stunde auf den Beinen.«

»Meine Schwester ist ja auch bescheuert«, grummelte Fred, aber dennoch richtete er sich auf. In seiner Brust hatte es zu brennen begonnen, während die Erkenntnis langsam in seinen Verstand sickerte: Hogwarts. Es ging endlich, endlich los! Endlich würde er die Schule besuchen, in der seine ganze Familie das Zaubern gelernt hatte und von der ihm seine Cousine Victoire seit zwei Jahren jedes noch so unwichtige Detail berichtete – während sie die spannenden Dinge außenvor ließ. Endlich würde er all die Zauber und Flüche und Geheimnisse lernen, die seit Jahren auf ihn warteten! Und was noch viel wichtiger war: Endlich durfte er seinen Zauberstab benutzen! Seit seine Eltern ihm den Stab vor einem Monat gekauft hatten, hatte Fred ihn – anders als seine anderen Schuleinkäufe aus der Winkelgasse, die er kreuz und quer in seinen Koffer geworfen hatte – auf seiner Kommode abgelegt und jeden Morgen und jeden Abend einmal in die Hand genommen. Er hatte die Hand um den weichen, kunstvoll gefertigten Griff gelegt und sich eingebildet, dass eine Wärme aus dem roten Holz in seine Finger strömte. Und wenn er sich ganz fest konzentrierte und die Augen zupresste konnte er sich vorstellen, wie das Einhorn, dessen Haar den Kern seines Stabs bildete, vor seinem inneren Auge auftauchte. Und manchmal, wenn er sich sicher gewesen war, dass seine Eltern außer Sicht- und Hörweite waren, hatte er den Stab geschwungen oder versucht, selbst ausgedachte Zaubersprüche auszuführen. Ein- oder zweimal war auch etwas geschehen – ein starker Luftzug, der die Fenster aufwarf oder eine unsichtbare Kraft, die seine Schubladen aus der Kommode geschleudert hatte. Einmal sogar hatte ein kleiner Funkenschauer ein Loch ins Poster seiner Lieblingsquidditchmannschaft gebrannt und die rot-grün-gekleideten Spieler waren erschrocken ins Nachbarbild geflogen. 

»Freddie?« Die Stimme seiner Mutter schreckte ihn auf. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er gedankenversunken auf seinen Zauberstab gestarrt hatte. »Komm bitte gleich runter zum Frühstück, ja? Wir sind schon spät dran.«

Er nickte kurz, dann sprang er auf und begann, die Kleidung anzuziehen, die er tags zuvor auf den Fußboden vor seinem Bett geworfen hatte.

»Ich hab dir auch noch einen Pullover rausgelegt!«, rief seine Mutter von der Treppe hinauf.

»Wieso das denn?«, murrte Fred und konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen, das seine Mutter zum Glück nicht mehr sehen konnte.

»Es ist ziemlich kalt draußen und der Besenflug wird kein Zuckerschlecken!«

Fred seufzte, während er sich seine Jeans überstreifte. Bevor er nach unten ging warf er noch einen langen Blick in den kleinen Spiegel im Flur. Ein entschlossenes Paar brauner Augen sah zurück. »Fred«, sagte er leise zu seinem Spiegelbild, »Ab heute bist du erwachsen.« Er nickte sich selbst zu und fuhr sich dann durch seine dunklen Locken, ehe er das Kinn reckte und prüfte, ob seine Frisur saß. Der Spiegel jedoch murmelte nur leise etwas von einem Fleck auf seinem T-Shirt. 

Unten in der Küche warteten bereits seine Eltern und seine kleine Schwester Roxanne auf ihn. Er konnte sehen, dass Roxanne geweint hatte; mit glasigen Augen starrte sie auf den Löffel in ihrer Tasse, der den Kakao von selbst umrührte. Den Grund für ihre Traurigkeit konnte er sich denken: Seit Fred seinen Brief aus Hogwarts bekommen hatte, jammerte sie, dass sie auch in die Zauberschule wollte. Die Zeit bis zu ihrer eigenen Einschulung erschien ihr viel zu lang. Im Stillen war Fred dankbar, dass er noch ein paar Jahre Ruhe vor ihr haben würde, ehe sie nach Hogwarts kam. Ständig mit seiner kleinen Schwester rumzuhängen wäre ihm ziemlich peinlich gewesen.

Als Mr. Weasley Fred in der Küche entdeckte, stürmte er auf seinen Sohn zu und wirbelte ihn in die Luft, wie er es immer getan hatte, als dieser noch ein kleiner Junge gewesen war. Und obwohl sein Kinderherz einen kleinen Satz machte, bemühte Fred sich, das Gesicht zu verziehen und sich aus den Armen seines Vaters zu kämpfen. »Dad, lass das«, murrte er unwillig und versuchte seinem Vater mit einem Blick zu verstehen zu geben, dass er inzwischen zu alt dafür war. Mr. Weasley jedoch ließ ihn nicht los, stattdessen drehte er ihm seine linke Seite zu, an der ein Ohr fehlte und sagte laut: »Wie war das? Ich kann dich nicht hören!«

Fred musste unwillkürlich lachen. »Lass mich los!«, wiederholte er japsend und sein Vater ließ ihn zurück auf die Füße plumpsen.

»Heute ist ein großer Tag, was, Freddie?«, fragte Mr. Weasley und zerzauste seinem Sohn das Haar, das dieser noch wenige Minuten zuvor gerichtet hatte. In seinem Blick lag eine seltsame Mischung aus Liebe, Stolz und Wehmut.

»Nun, wenn wir nicht bald aufbrechen wird das eher ein großes Nichts«, schaltete sich seine Mutter ein. »Wir wollen doch nicht den Zug verpassen!« Sie reichte ihrem Sohn ein fertig geschmiertes Honigbrot und gab ihm einen Klapps auf den Rücken. »Los, holt schnell deine Sachen runter! Und vergiss deinen Pullover nicht!«, rief sie ihm noch nach, während er schon mit seinem Vater zusammen auf dem Weg nach oben war. In seinem Zimmer schulterte Mr. Weasley den großen, schweren Schrankkoffer, während sich Fred seinen Rucksack auf den Rücken schnallte.

Gemeinsam polterten sie wieder die Treppe hinunter. Mrs. Weasley hatte bereits die Besen aus dem Schrank geholt. »Dein Pullover!«, mahnte sie ihren Sohn, der stöhnte und sich mühsam in den dicken heidelbeerblauen Pullover zwängte, den sein Vater ihm entgegenstreckte.

»Ich weiß gar nicht, was du hast, Freddie«, sagte er gut gelaunt und deutete auf seinen eigenen, ebenfalls blauen Strickpullover, den er über einem leuchtend magentafarbenen Hemd trug. »Ich finde die Pullover deiner Großmutter sehr gemütlich und herrlich warm.« Auf seiner Brust zeichnete sich, wie auch auf Freds Pullover, ein großes gelbes F ab. Während Mrs. Weasley Roxanne ebenfalls einen Strickpullover über den Kopf zog und einen dicken Schal um ihren Hals wickelte, lud Mr. Weasley Freds Koffer mit einem Ächzen auf den Gepäckträger des großen Familienbesens. Auf diesem würde Mrs. Weasley gemeinsam mit Roxanne reisen, Mr. Weasley und Fred würden jeweils auf einem eigenen Besen fliegen. Fred hoffte immer noch, dass er seine Eltern bis zum Bahnhof überzeugen konnte, seinen geliebten Rennbesen, den Nimbus 3000, mit nach Hogwarts nehmen zu dürfen.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, warf Mr. Weasley seinem Sohn einen scharfen, aber augenzwinkernden Blick zu und sagte: »Komm bloß nicht auf dumme Gedanken, Freddie, deinen Besen nehmen wir nachher schön wieder mit nach Hause.«

Fred schmollte. Sein Vater kannte ihn einfach zu gut. »Das ist unfair«, klagte er. »Victoire will gar keinen eigenen Besen aber dürfte einen mitnehmen, ich will einen und darf ihn nicht mitnehmen.«

»Du darfst ihn ja mitnehmen«, erklärte seine Mutter, während sie sich selbst ihren Mantel anzog. Lächelnd fügte sie hinzu: »Nächstes Jahr.«

»Das ist so unfair. Ich hasse es jetzt schon, Erstklässler zu sein!«

»Ich geh für dich!«, schrie Roxanne sofort und Fred verdrehte die Augen.

»So, nun übertreib mal nicht«, sagte sein Vater und öffnete die Haustür. Die kühle Morgenluft strömte in den Flur und jagte Fred einen Schauer über den Rücken. Er hätte es zwar nicht laut zugegeben, aber plötzlich war er ganz froh, den Pullover seiner Großmutter zu tragen.

»Können wir dann los?« Mr. Weasley sah seinen Sohn erwartungsvoll an, ebenso wie seine Frau. Fred atmete tief durch und nickte. 

Haus und VorurteilWhere stories live. Discover now